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Re: [ox] Nachhaltige Selbstorganisation



Hi ThomasB und Liste!

Last week (8 days ago) Thomas Berker wrote:
Thursday, December 26, 2002, 2:50:30 PM, Franz wrote:
[...]
Wie nachhaltig und wie verläßlich kann Kooperation gestaltet werden?
Was mich an Christoph Spehrs Theorien stört, ist daß er das letztlich
in das bürgerliche Willensverhältnis auflöst. Aber ich denke, zumindest
ein Gutteil der Fragen ist strukturell - technologisch und nicht moralisch.
[...]

Ich finde deine Intervention sehr wichtig. Es genuegt eben nicht, eine
Website aufzusetzen und um massenhafte Beteiligung zu bitten, sich
dann nach einer Weile enttaeuscht vom Egoismus der Massen in den
Schmollwinkel zurueckzuziehen (1).

Und die Fußnote:

(1) Ich hab fuer meine Diss private studentische Homepages analysiert
und diesen Typus sehr haeufig aufgefunden. Auch im Umfeld dieser Liste
scheint mir das vorzukommen.

Volle Zustimmung.

Da wird der eigene
technisch-organisatorische Fehler (oder sagen wir mal: Naivitaet) in
einen moralischen der anderen umgebogen.

Naivität scheint mir hier oft die wichtigste Größe. Es ist einfach
kein Allgemeingut, was notwendig oder meinetwegen hilfreich ist, etwas
Soziales zu konstituieren.

Es ist andersherum natuerlich
auch nicht unbedingt der Fehler des Werkzeugs, wenn Selbstorganisation
nicht nachhaltig wird. Die gewitzteste technische Loesung wird sich
leider allzu oft nicht durchsetzen. Aber der Ruf nach einem besseren
Tool fuehrt sicher weiter als "der Mensch ist eben schlecht". Ein
Schuh wird m.E. daraus, wenn 'der Mensch' (als real existierendes
soziales Wesen) und Technologie (durchaus auch im Sinne einer sozialen
Technologie, also z.B. einer Methode, Menschen zu organisieren)
zusammengedacht werden.

Ja.

Eine interessante Frage ist halt, in wie weit das Organisatorische in
einem Tool schon eingebaut ist. Wenn ich z.B. an die Begeisterung von
ThomasK über Wiki bei dem Tools-Workshop auf der Konferenz denke - bei
dem ich leider nicht sehr lange war :-( -, dann schien mir das da sehr
plastisch zu werden. Übertragen auf ein anderes Beispiel hatte ich das
so verstanden: Papier ist ein tolles Tool, weil mensch da alles drauf
schreiben kann. Das ist zwar richtig, aber um etwas Soziales
draufzuschreiben - egal ob Papier oder Wiki - braucht es noch etwas
ganz anderes. Nämlich eine Struktur.

Im Idealfall(?) kommt die Struktur einfach aus den Köpfen der Leute
und es sind keinerlei explizite Maßnahmen notwendig. Das scheint mir
auch so ein bisschen im Hintergrund dessen zu stehen, was Jörg und
Annette auf der Konferenz versucht haben. Das verlangt aber viel von
den Leuten - insbesondere bei Anonymität. Eine in die (soziale oder
technische) Technik eingebaute Struktur kann da m.E. hilfreich sein.

Nur so als Running Gag: Diese Organisation / (sozialen) Technologien
sind m.E. alles Bestandteile des Herrschaftsbegriffs iSdsS.
Interessant vielleicht auch, wie schmal hier der Grat zwischen
Herrschaft iSdsS und der als Unterdrückung verstandenen Herrschaft
ist.

Unter welchen Bedingungen werden also sozio-technische Innovationen
nachhaltig, wie beginnen sie, wo hakt es, warum scheitern sie, usw?
Ich vermute mal, dass es da einen Haufen Erfahrung auf dieser Liste
und anderswo gibt. Als Soziolog beziehe ich mich auf Empirie, genauer
gesagt auf Erfahrungen aus der kritischen Innovationsforschung (ich
nenn das, was ich betreibe, einfach mal so). Wir arbeiten hier in
Trondheim mit einem Ansatz, der sich um den Begriff 'Domestikation'
von Technologien dreht. Entwickelt wurde er bei der Untersuchung von
erfolgreichen technischen Innovationen in der Privatsphaere
(Literaturangaben haengen unten dran). Ich meine, dass er anwendbar
ist, um auf ein paar Fallstricke und Bedingungen fuer sozio-technische
Innovationen insgesamt hinzuweisen.

Es klingt auf jeden Fall recht interessant was ihr da rausgefunden
habt. Wenige Kommentare und viele Zitate um den Kontext zu erhalten.

Als wichtige Themenkomplexe haben sich in da Aneignung, Einbettung und
Sinngebung herauskristallisiert.

ad Aneignung: Sie bezeichnet zuerst einmal den Akt des Erwerbs. Im
erweiterten Sinn koennen wir damit fragen, wie Leute mit einer
sozio-technischen Innovation in Beruehrung kommen. Die gibts ja
schliesslich nicht im Laden. Allerdings: Interessant dabei ist, dass
das Konzept 'Laden' immer mal wieder und durchaus erfolgreich
auftaucht, beispielsweise in Umsonstlaeden, Wissenschaftslaeden,
Dritte-Welt-Laeden. Hier gehen die Projekte in den oeffentlichen Raum
und machen sich erstmal allgemein sichtbar und zugaenglich.

Wichtig ist aber weiters eine niedrige Schwelle. Die kann z.B.
hergestellt werden ueber (anfaengliche) Anonymitaet, wie sie in
'normalen' Laeden ja der Fall ist.

Wofür ist eine niedrige Schwelle wichtig? Doch damit viele, relativ
unspezifische Leute angezogen werden. Vielleicht ist das aber gar
nicht Ziel einer jeden Veranstaltung? Manchmal ist es ja völlig ok,
wenn nicht so schrecklich viele sondern die Richtigen zusammenkommen.
Ich denke, dass viele Freie-Software-Projekte so funktionieren. Auch
in politischen Zusammenhängen habe ich es schon öfter erlebt, dass
Klasse (ähm - jetzt nicht die mit dem Kampf ;-) ) oft wichtiger ist
als Masse.

Der Erwerb von Waren weist immer auch ueber sich hinaus. Das ist im
3.Weltladen so, wo das Paeckchen Tee fuer gerechtes Handeln stehen
soll. Das ist aber auch schon beim Kauf eines TV-Geraets so,
schliesslich kauft man damit neben einem Apparat auch die
Mitgliedschaft im Publikum des Fernsehprogramms.

Interessanter Punkt.

FS zeigt, dass zumindest im Fall immaterieller Produktion oeffentliche
Online-Foren diese Funktion auch erfuellen koennen. Allerdings duerfte
der Erstkontakt mit FS oefter ueber die Programme selbst laufen oder
ueber existierende soziale Netzwerke (Freundeskreis, KollegInnen,
KommilitonInnen).

Im ersten Fall also über das entsprechende Gut. Zurück auf den Laden
übertragen: Wo hast du denn *dieses* tolle Teil gekauft?

Nicht vergessen duerfen wir schliesslich auch den 'common itch', das
konkrete gemeinsame Beduerfnis, das die Innovation befriedigen muss.
Das kann durchaus weit gefasst sein. Bei FS ist das klar. Fuer
sozio-technische Innovationen ist Zeitsparen heutzutage einer der
heissesten Kandidaten fuer weit verbreitete Beduerfnisse. Aber das ist
natuerlich nur ein Beispiel.

In Oekonux-Parlance: Das weite Feld der Selbstentfaltung.

Also, Lessons learnt:

- Oeffentlichkeit
- Geringe Schwelle
- Artefakte, die ueber sich hinausweisen
- real existierende soziale Netzwerke
- common itch

ad Einbettung: Nachhaltigkeit, dieser etwas abgelutschte Begriff,
bezeichnet ja auch eine Zeitdimension. Damit ein technisches Artefakt
nicht nach einer Weile in der Ecke des Haushalts verschwindet,
ungenutzt, muss es eingebettet werden in den Alltag.

Guter Punkt!

Das gilt auch
allgemein fuer sozio-technische Innovationen. Routine und die
Verschmelzung mit anderen taeglichen Routinen spielen hier eine
wichtige Rolle.

Dazu eine technologische Anmerkung. Es wird ja zwischen Push- und
Pull-Technologien unterschieden. Erstere liefern etwas automatisch -
z.B. Mailing-Listen - bei letzteren bedarf es einer expliziten
Anforderung - alles was im Web ist z.B.

Mir fallen die Push-Technologien i.d.R. leichter, weil ich da quasi
ein Signal von Außen bekomme und nicht selber auf die Suche gehen
muss.

Bennis Verknuepfung von Arbeitspendeln und
Eierdistribution ist ein gutes Beispiel. Bei FS-Produktion koennen wir
ebenfalls fragen, wie sie in den Alltag eingebettet ist. Hier gibt es
zum einen die, die als Abfallprodukt der Erwerbsarbeit entsteht. Das
andere Modell ist FS als Hobby. Beides bezeichnet wahrscheinlich die
wichtigsten Modelle fuer erfolgreiche Einbettung. Ersteres setzt
voraus, dass ArbeitgeberInnen bereit sind dafuer zu zahlen, letzteres,
dass es die magische Qualitaet hat, die Leute unendlich viel Muehe in
Hobbies stecken laesst. Wichtige Determinanten duerften hier wieder
soziale Netzwerke sein. Der Hobbyist bastelt ja mit Gleichgesinnten
und fachsimpelt fuer sein Leben gern ueber das Feld seiner Expertise.

Lessons:
- Regelmaessigkeit
- Unhinterfragtheit, Routinisierung
- Einbettung in Arbeit oder
- Hobby
- soziale Netzwerke

ad Sinngebung: Es wurde bereits angesprochen: Das Artefakt selbst
zieht einen Rattenschwanz an Sinn hinter sich her. Fernseher bedeutet
Vieles, Teilhabe am Publikum, Suchtmittel, ... . Ebenso FS, sie wird
mit Sinninhalten wie Freiheit, technische Versiertheit, usw. gefuellt.
Wir wissen, dass die sog. interpretative Flexibilitaet (in gewissem
Rahmen) eine wichtige Determinante ist fuer erfolgreiche
'Domestikation'. D.h., dass viele Vieles darin sehen koennen muessen.

Das ist bei Freier Software ganz bestimmt so.

Ich assoziiere damit auch eine politische Bewegung, die sich ja auch
durch Breite auszeichnet. Ist das diese interpretative Flexibilität?

Das erweitert ganz einfach den 'Kundenstamm'. Ganz flexibel darf es
aber auch nicht sein, denn Sinn ergibt sich nicht rein individuell,
sondern in Gruppenprozessen, d.h. Sinngebung ist immer auch Teilhabe
an Sinngemeinschaften.

Das klingt plausibel.

Diese grenzen sich gern mal gegen andere ab,
bei FS ist das natuerlich kommerzielle Software, allen voran M$. Damit
sind wieder die real-existierenden sozialen Netzwerke angesprochen,
aber auch Kampf um Bedeutung. Gemeinsame Feinde vereinen und
motivieren ungemein, das wissen alle, die schonmal wieauchimmer
politisch unterwegs waren.

Na ja, die Abgrenzung ist natürlich eine Eigenschaft jeder Gruppe
schlechthin: Gebe es die Grenze nicht, was wäre dann die Gruppe? Wobei
die Grenzen dazu nicht unbedingt scharf sein müssen.

Eine andere Frage ist aber die, wie das Außen bewertet wird.
Freund-/Feind-Schemata sind da eine Möglichkeit - aber sicher nicht
die einzige - oder?

Außerdem würde ich das Bedürfnis nach einem gemeinsamen Feind eher
unter die Selbstentfaltung rechnen - oder? So in etwa: "Ich hasse,
also bin ich" :-( .

Lessons:
- interpretative Flexibilitaet
- Sinngemeinschaften
- soziale Netzwerke
- Feinde und Freunde


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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