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[ox] Aus dem Inneren des Kapitalismus



Aus dem Inneren des Kapitalismus
 



Soeben erscheint Moishe Postones Buch "Zeit, Arbeit und gesellschaftliche
Herrschaft", das geeignet ist, die Wertkritik nicht nur plausibel zu machen,
sondern auch die Nähe dieser zeitgenössischen Strömung des Marxismus zur
Subjektkritik offenbart, auf deutsch. 


Wie dagegen Marx sagt ...

Wer Kenntnis der Bücher und Aufsätze des Marxismus hatte, konnte durch ein
Ergebnis der Pisa-Studie nicht überrascht werden: die geringe Fähigkeit, einen
deutschen Text zu lesen. Lesen selbstredend nicht verstanden als
Entzifferung einer Buchstabenfolge, sondern als Erfassen eines präsentierten
Sinnzusammenhangs. Dem mit vorschulischen Trainingsprogrammen beikommen zu wollen, sei
an dieser Stelle bemerkt (die sich sonst nicht als Politikberatung
missverstanden wissen möchte), ist ein völlig verfehltes Programm. Der Marxismus lehrt
uns, daß die Auslegung deutscher Texte ein Unterfangen ist, das Jahrhunderte
beansprucht. Wie anders wäre es zu erklären, daß jede neue Generation erkennt,
dass in der bisherigen Lektüre der kanonischen Texte von Marx eklatante
Fehler gemacht wurden, die gelinde gesagt den Sinn des geschriebenen Wortes in
sein Gegenteil verkehrten. Selbst innerhalb der Generationen ist erbitterter
Streit über das geschriebene Wort und seine Beziehung zur Wirklichkeit die
Regel. Ob Lukács, ob Althusser die Schriften und ihre getreuliche Auslegung galt
es zu verteidigen, gegen die inneren und äußeren Feinde der Revolution und
der kommunistischen Bewegung. Selbst wenn es dafür notwendig war, Engels und
Lenin fehlende Sorgfalt nachzuweisen. 
Die aktuelle Version des Beweises, dass alle bisherigen Lektüren des
Marxschen Werkes nur der Konterrevolution dienten und mithin als fahrlässig dumm
oder gar gefährlich zu klassifizieren sind, heißt Wertkritik und zerfällt
hierzulande schon wieder in verschiedene Bestandteile. Zeit also, dass im ça ira
Verlag ein seit Jahren angekündigter Grundlagentext der Bewegung erscheint.
Postones 1996 auf englisch erschienenes und inzwischen im Original nur noch
sporadisch aufgelegtes Buch "Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft"
erfüllt alle Ansprüche an ein marxistisches Buch. Keiner hatte zuvor gedacht, was
Postone dachte, außer dass natürlich bei Marx, wie in Zitaten und Fußnoten
nachgewiesen, alles längst stand und nur seiner Entdeckung harrte. Dass das
Buch trotz dieser etwas ermüdenden Attitüde lesenswert ist, hängt mit den
Gedanken des Postone-Marx zusammen. 


Marxismus ohne Klassensubjekte

Durch seine verzögerte Erscheinungsweise kann "Zeit, Arbeit und
gesellschaftliche Herrschaft" als überzeugende Antwort auf die Kommunismusvorstellung,
die Antonio Negri und Michael Hardt in "Empire" entwickelt haben, wahrgenommen
werden. Wo Negri und Hardt in den postmodernen Produktionsformen, die sich an
Projektarbeit und kommunikativen Strukturen orientieren, den Kommunismus in
seiner Keimform entdecken, fängt Postones grundsätzliche Kritik an. Das
Argument Negris und Hardts beruht auf der Abnahme direkten Zwangs im
Produktionsprozess, also dem Fehlen von Instanzen, die das Wissen über den Gesamtprozess
in Administration verwandeln. Die Arbeit wird so zu einer Tätigkeit, die der
Leitung ebenso wenig bedarf wie der Ausbeutung und deshalb die Möglichkeit
eines emanzipierten, selbstbestimmten Produktionsprozesses in sich trägt. 
Genau diesen positiven Bezug auf die Arbeit wirft Postone der marxistischen
Tradition vor. Die Vorstellung, der Arbeitsprozess sei nur durch Ausbeutung
und Administration im Kapitalismus deformiert, bilde an sich aber die positive
Basis einer emanzipierten Gesellschaft, die folglich vom gesellschaftlichen
Standpunkt der Arbeit aus erstritten werden müsse, hatte die
ArbeiterInnenbewegung geleitet und war Teil ihrer Konstitution im Kapitalismus. Aber "die
historischen Entwicklungen der letzten 50 Jahre - wie die Entwicklung und
jüngste Krise des staatsinterventionistischen, postliberalen Kapitalismus, der
Aufstieg und anschließende Fall der Gesellschaften des ‚real existierenden
Sozialismus', das Aufkommen neuer sozialer, ökonomischer und ökologischer
Probleme von globalem Ausmaß und die Entstehung neuer sozialer Bewegungen -
haben die Unzulänglichkeiten des traditionellen Marxismus als kritischer
Gesellschaftstheorie mit emanzipatorischem Anspruch deutlich gemacht." (Postone,
389)*
 
Nun ist die Krise der aus den Erfolgen der ArbeiterInnenbewegung
hervorgegangenen Gesellschaftskonzepte zunächst nur ein Indiz für die Unangemessenheit
der ihnen zu Grunde liegenden Analysen des Kapitalismus. Erklärungskraft
gewinnt Postones Argumentation erst, wenn sie sich mit der Kategorie der Arbeit,
also der Analyse des Kapitalismus selbst beschäftigt. Ausgangspunkt für seinen
Verdacht gegen die ausgezeichnete Rolle Arbeit und ihrer Klasse im
Emanzipationsprozess ist eine Bemerkung Marx', derzufolge das Proletariat sich erst im
Kapitalismus formiere und mit dessen Überwindung auch seine eigene
Überwindung anstreben müsse. Dies nur so zu verstehen, dass mit dem Wegfall der Klasse
des Kapitals die Klasse der Arbeit allgemeingültig würde und allein dadurch
aufhöre als Klasse zu existieren, entspricht der traditionellen
Interpretation. Ein wertkritischer Ansatz verweist dagegen auf den doppelten Charakter der
Arbeit als kapitalistischer Grundkategorie. 

Arbeit ist nicht nur eine Tätigkeit, die mit einem konkreten produktiven
Inhalt verbunden ist, sie ist zugleich Teil des abstrakte Mechanismus
gesellschaftlicher Vermittlung. Dieser gesellschaftliche Vermittlungszusammenhang, dem
sich der Anfang von Marx' Kapital widmet bildet für die Wertkritik den Kern
der kapitalistischen Vergesellschaftung. Wo noch im Feudalismus offener Zwang
die gesellschaftliche Arbeitsteilung bestimmte, indem den einzelnen nach den
Regeln einer feststehenden Hierarchie gesagt wurde, was sie zu tun hätten,
wird im Kapitalismus die soziale Dimension der Arbeitsteilung verborgen.
Nichtsdestotrotz ist gerade die kapitalistische Gesellschaft von einer Aufteilung
der Arbeit in spezialisierte Berufe geprägt. Die Frage vor der eine Analyse
des Kapitalismus zunächst steht ist mithin, wie es diese Gesellschaft schafft
die einzelnen Tätigkeiten aufeinander zu beziehen, ohne die Leitung durch
einen Befehl, Plan oder einen offenen Austauschprozess über Ziele und
Größenordnung der Produktion. 


Immanenter Zwang und Entfremdung

Die Lösung des gesellschaftlichen Kooperationsproblems besteht im
Kapitalismus in der Verlagerung des Zwangs aus den offenen sozialen Verhältnissen in
den verbergenden Zusammenhang der Ökonomie. Deshalb hat Arbeit im Kapitalismus
notwendiger Weise einen doppelten Charakter. Neben ihrer konkreten Form einer
bestimmten Tätigkeit ist sie ein zweite Größe im ökonomischen System. Diese
Größe muss die Substanz des gesellschaftlichen Beziehungsgeflechts der
einzelnen Arbeiten bilden oder, anders ausgedrückt, sie muss die Gemeinsamkeit der
diversen unter dem Arbeitsbegriff zusammengefassten Tätigkeiten darstellen.
Weil in dieser Seite der Arbeit statt des konkreten Vollzugs einer Tätigkeit
nur die Tatsache ihrer Einbindung in den gesamtgesellschaftlichen
Produktionsprozess zählt, wird sie als abstrakte Arbeit bezeichnet. Abstrakte Arbeit ist
also bewertete Arbeit, wobei der Wert das Medium darstellt, indem alle
Arbeiten als gleichartige Teilnahme am Produktionsprozess aufgefasst werden. 

Es ist der konkrete Vorgang der Bewertung, der die Kategorien der Arbeit,
des Wertes und des Kapitals miteinander verbindet. Denn die soziale Vermittlung
der Bewertungen von Einzelarbeiten entsteht erst durch ihren tatsächlichen
Bezug aufeinander im Warentausch, bei dem die Bewertungen der Arbeiten auf die
Arbeitsprodukte transferiert werden müssen. So gilt auch für die Waren als
Produkte und Produktionsvoraussetzungen und folglich auch für das Kapital eine
Verdoppelung des Charakters. Sie sind nicht nur Dinge, sondern wie Arbeit
ebenfalls Elemente im gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang. Es ist diese
Verdoppelung, von der die Dynamik der kapitalistischen Produktion, ihr
größtmögliches Wachstum um jeden Preis ausgeht, da die Organisation der Produktion
und die Verteilung der Produkte als zusätzliche Sphäre an Gegenstände
gebunden werden. So fällt der materielle Reichtum nicht mit dem Wert der Produktion
zusammen, da sich dieser nicht an der Menge der Gegenstände, ihrer
"Nützlichkeit" etc. misst, sondern an ihrer Stellung im Bewertungsprozess der
einzelnen Arbeiten. Und zugleich stehen die Gegenstände der Produktion als Werte den
Menschen in der Form von Zwänge gegenüber, die ihr Handeln leiten. 

Für diesen Verlust an Souveränität über die Produktion, die als naturhafter
Zwang sich selbst zu leiten beginnt, führt Postone den Begriff der
Entfremdung wieder ein. "In der hier vertretenen Interpretation ist Entfremdung der
Prozess der Vergegenständlichung abstrakter Arbeit. Sie verweist nicht auf die
Veräußerung eines vorbestimmten menschlichen Wesens, sondern eher auf die
Verwirklichung menschlicher Möglichkeiten in entfremdeter Form. Mit anderen
Worten, Entfremdung bezieht sich auf einen Prozess der historischen Konstitution
menschlicher Möglichkeiten, die von Arbeit als sich selbst
vergegenständlichender sozialer Vermittlungstätigkeit beeinflusst wird. [...] Im Kapital
analysiert Marx die aus entfremdeter Arbeit hervorgehende Entstehung einer
allgemeinen sozialen Form, die sowohl eine Struktur ist, in der historisch menschliche
Fähigkeiten geschaffen werden, als auch eine Struktur abstrakter Herrschaft.
Diese entfremdete Form führt zur raschen Akkumulation sozialen Reichtums und
der produktiven Möglichkeiten der Menschheit und sie hat ebenso zunehmende
Teilung der Arbeit, ein formale Einteilung der Zeit und die Zerstörung der
Natur zur Folge. Die durch bestimmte Formen sozialen Handelns gebildeten
Strukturen der abstrakten Herrschaft verursachen einen gesellschaftlichen Prozess
der jenseits menschlicher Kontrolle liegt, sie führen in der Analyse von Marx
aber auch zu der historischen Möglichkeit, dass die Menschen kontrollieren
können, was sie in entfremdeter Form sozial gebildet haben." (Postone, 162) 


Die substantielle Dimension der Entfremdung

Die Überwindung der Entfremdung setzt aber voraus, dass ihre Dimension
vollständig erfasst wird. Und das gelingt nicht, wenn sie nur als formales Element
begriffen wird, dass den gesellschaftlichen Austausch und die Planung der
Produktion regelt. Eine solche formale Analyse wäre durchaus noch mit der
Perspektive einer Kritik vereinbar, die zwar die gesellschaftlichen
Regelmechanismen angreifen will, der Produktion als gesellschaftlicher Realität im Grunde
aber positiv gegenüber steht. Postone ist es deshalb wichtig, auf
Veränderungsprozesse des Kapitalismus hinzuweisen, die er substantiell nennt. Hierbei
konzentriert er sich auf zwei Gebiete, die eng mit der Bewertungspraxis des
Kapitalismus zusammenhängen. Das ist zum einen unsere alltägliche Vorstellung von
der Zeit, zum anderen die konkrete Tätigkeit der Arbeit selbst. 

Bezüglich der Zeit argumentiert Postone weitgehend historisch. Die uns
geläufige Vorstellung der Zeit verbindet sich mit der Durchsetzung ihrer
permanenten Messung im Alltag. Zusammentreffend mit der Entwicklung von
Messinstrumenten in der Mechanik musste dazu die Zeit in den Alltagspraxen verankert
werden. Ein Umstand der durch die Rhythmisierung der Arbeit in den Fabriken
erreicht wurde. Statt wie bisher den zeitlichen Verlauf von Tätigkeiten an ihren
Inhalten oder ihren äußeren Bedingungen (wie Tageslicht oder Jahreszeiten) zu
messen, entwickelte sich auch die kapitalistische Zeit zu einem Abstraktum.
Einer in unendlich kleine Stücke teilbaren, an einer einzigen, unveränderlichen
Einheit messbaren Linie, die vom Kreis der Uhr bestimmt wird. An ihr wurden
nun die Arbeitsstunden gemessen, die als abstrakte Äquivalenteinheiten der
Bewertung dienen. Die moderne Arbeitspraxis hat so den Ablauf des menschlichen
Lebens radikal verändert, indem sie ihm einen Rhythmus gab, den es ohne sie
nicht hätte und der inzwischen als natürliche Gegebenheit hingenommen wird, als
wäre das Modell der Mechanik mit seiner Zeitmessung das leitende Motiv der
menschlichen Existenz. 

Doch die Rhythmisierung der Tätigkeiten gemäß dem starren Maß der
Arbeitsstunden ist nur ein Aspekt der Veränderung der Tätigkeiten unter dem Einfluss
der kapitalistischen Produktion. Postone argumentiert darüber hinaus, daß die
entfremdete gesellschaftliche Form des Kapitalismus die Produktion völlig neu
entstehen lässt. Ließ sich noch anhand der Manufakturen des Frühkapitalismus
behaupten, es sei die Tätigkeit der Arbeitenden, die einem kapitalistischen
Produktionsprozess unterworfen wurde, ist seit Beginn der Industrialisierung
der Kapitalismus selbst für die Entwicklung der Tätigkeiten in der Produktion
zuständig. Seine Dynamik, die auf eine fortwährende Produktivitätssteigerung
ausgerichtet ist, entwickelt Produktionsformen, die es ohne ihn nicht gebe,
weshalb eine emanzipatorische Kritik nicht dabei stehen bleiben kann, die
Bedingungen der Produktion und die Verteilung der Produkte zu erfassen, sondern
den Arbeitsprozess selbst als kapitalistischen zu begreifen hat. 


Die kapitalistische Natur postmoderner Produktionsformen

An dieser Stelle ist es möglich auf den Unterschied zwischen Postone und
Negri/Hardt zurückzukommen. Letztere behaupten schließlich - mit Postone
weitgehend übereinstimmend was die Arbeit unter den Bedingungen der Industrie
betrifft - mit den neuen Arbeitsformen der New Economy sei ein emanzipatorisches
Potential entstanden, dass aufgrund der in der Tätigkeit vorhanden
Freiheitsgrade über den Kapitalismus hinauszuweisen vermag. Doch die Realität sieht etwas
anders auch. Selbst die Bewegung der freien ProgrammiererInnen, die sich
über das Internet koordiniert an die Entwicklung von Softwareprojekten machten,
die wie in alten Kommunezeiten außerhalb der regulären Ökonomie produziert
werden sollten, werden gegenwärtig voll in den kapitalistischen Normalprozess
eingebunden. Wobei die Einbindung das produktive Potential für das Kapital
erschließt und dabei wiederum die organisatorischen Formen entstehen lässt, von
der die Entwicklung von Code in der nächsten Zukunft bestimmt wird. 

Wo Negri und Hardt nur die Überwindung industriell geprägter Arbeitsformen
sehen, entwickelt sich unter Umständen eine neue dominante Produktionsform
entfremdeten Charakters. "Die Nützlichkeit und Qualität des Produkts kombiniert
mit dem Gefühl, dies in Gemeinschaft miteinander und nicht gegeneinander zu
tun, sind Motivationsquellen, die neue Unternehmensstrategien, bzw. neue
Arbeitsideologien, für sich nutzen könnten (im Gegensatz dazu wird bei der schon
länger propagierten Teamarbeit häufig grade die Konkurrenz als
motivationssteigerndes Element eingesetzt, indem man Teams gegeneinander konkurrieren
lässt). Ein nächster naheliegender Gedanke wäre, das Potenzial der Freiwilligkeit
stärker auszuschöpfen, zum Beispiel als künftige Einstellungsbedingung ein
bestimmtes freiwilliges Engagement vorauszusetzen. Damit wäre auch die Probezeit
und Einarbeitungszeit von den Unternehmen nach außen in die
‚Eigenverantwortung' und ins Belieben der arbeitenden Menschen verlagert." (Nuss,
2002)** 


Kritik von innen heraus

Postones skeptische Haltung gegenüber den Produktionsprozessen als positiven
Anknüpfungspunkten für eine Überwindung des Kapitalismus, entsteht nicht nur
aus einer anderen Analyse des Materials. Im Gegenteil scheint es, dass die
Abweichungen in der Beurteilung der kapitalistischen Formen sich aus einem
grundsätzlich verschobenen Blickwinkel ergeben. Statt den Standpunkt eines
historischen Subjekts einzunehmen und anschließend proletarisch-kommunistisch über
die bestehende Gesellschaft zu urteilen, schlägt er eine andere Fundierung
und Motivation der Kritik vor. "Der Übergang von einem überhistorischen zu
einem historischen Ausgangspunkt hat zur Folge, dass nicht nur die Kategorien,
sondern selbst die Form der Theorie historische speziell sind. Wird Marx'
Annahme zugestimmt, dass das Denken gesellschaftlich geprägt ist, dann beinhaltet
seine Hinwendung zur Analyse der historischen Spezifik der Kategorien der
kapitalistischen Gesellschaft (seinem eigenen gesellschaftlichen Kontext) eine
Hinwendung zu einem Begriff der historischen Spezifik seiner eigenen Theorie.
[...] Deshalb fühlte sich Marx gezwungen seine kritische Darstellung der
kapitalistischen Gesellschaft auf eine konsequent immanente Weise zu
konstruieren, diese Gesellschaft in ihren eigenen Ausdrücken so analysierend wie sie
war. Der Standpunkt der Kritik ist ihrem gesellschaftlichen Objekt immanent; sie
beruht auf dem widersprüchlichen Charakter der kapitalistischen
Gesellschaft, der die Möglichkeit ihrer geschichtlichen Überwindung anzeigt." (Postone,
140) 

Mit diesem Ansatz verlässt Postone den Standpunkt, den marxistische
Argumentationen in ihrer Auseinandersetzung mit "postmoderner" Kritik häufig
einnehmen. Für die Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft bedarf es keines Punktes,
von dessen Höhe aus das Ganze in seiner Objektivität zu erfassen ist. Statt
dessen sind auch die Kategorien von Subjektivität und Objektivität als sozial
konstituiert zu erfassen, Die Alternative besteht folglich in einer Kritik, die
ihre Sicherheit nicht aus einer höheren vorgefertigten Berechtigung zieht,
sondern aus der Auseinandersetzung mit den sozialen Verhältnissen selbst. Dem
Marxismus eröffnet Postone damit die Möglichkeit die Kritik an
Subjektkonstitution und Naturalisierungen nicht länger aus sich ausschließen zu müssen.
Dabei gibt er jedoch den kritischen Anspruch und die Perspektive einer
gesellschaftlichen Umwälzung nicht auf. Auch wenn seine eigene Vorstellung von diesem
Prozess sehr vage bleibt (Verweise auf neue soziale Bewegungen und
ökologische Probleme wirken eher hilflos altbacken), eröffnen ihm die Kategorien der
Entfremdung und des mit ihr einhergehenden Widerspruchs Räume für ein agieren
innerhalb der gesellschaftlichen Totalität, die deren Überwindung nicht nur
erstrebenswert, sondern auch möglich erscheinen lassen. 
Hoffen wir, dass der Marxismus auch bei ça ira soviel Sinn für die real
existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse am Leben ließ, dass ihr euch statt
der Nationalschriftsteller Walser, Grass & Co. "Zeit, Arbeit und
gesellschaftliche Herrschaft" zu Weihnachten auf den Gabentisch legen lassen könnt. 


* Zitate eigene Übersetzung aus Moishe Postone "Time, labor, and social
domination - A reinterpretation of Marx's critical theory", Cambridge University
Press 1996 
Die deutsche Ausgabe ist für Dezember angekündigt: Moishe Postone
“Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Eine neue Interpretation der
kritischen Theorie von Marx”, ca. 600 Seiten, ca. Euro 34, ISBN:
3-924627-58-4 
** vgl. Sabine Nuss, Zur Verwertung allgemeinen Wissens. Ein
kapitalistisches Geschäftsmodell mit Freier Software, in: Das Argument 248, 44.Jg., Heft 5/6


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