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[ox] Fwd: Vom Recht der Gesellschaft, ihren Vermögensanteil am technischen Fortschritt einzufordern



Hi Jochen,

danke für diesen wirklich interessanten Artikel, den ich gleich mal nach 
in die wak-Liste schicke (in der Oekonux-Liste wurde er als Link auch 
schon gepostet: ich cc: das deswegen auch mal dorthin - auch, weil du es 
ja breit verteilt hast).

Zwei Dinge sind mir aufgefallen: In dem Artikel wird völlig zurecht auf 
das durchaus für das Denken befreiende "Lasset alle Hoffnung fahren" 
verwiesen, dann wird aber doch "Hoffnung" gemacht, man könne über eine 
Vermögenssteuer umverteilen.

Zweitens sprichst du in deinem Subject vom "Recht der Gesellschaft, ihren 
Vermögensanteil am technischen Fortschritt einzufordern". Das verstehe 
ich nicht: Wer ist denn da noch außerhalb der Gesellschaft, der oder die 
sich anscheinend den anderen Teil unter den Nagel reisst?? Für mich 
verweist diese Formulierung auf ein Dilemma: Es gibt kein "außerhalb" (da 
hat das "Empire" einfach recht). Es ist diese Gesellschaft, die genau das 
produziert, was Greffrath in so wunderbar literarischer Form (fand ich 
übrigens überhaupt nicht langatmig, sondern sehr kurzweilig) beklagt.

Vielleicht bekommen wir das ja mit in unseren (wak) Empire-Workshop auf 
der Oekonux-Konferenz, denn ich halte es auch für Kernfragen.

Ciao,
Stefan

----------  Forwarded Message  ----------

Subject: Vom Recht der Gesellschaft, ihren Vermögensanteil am technischen 
Fortschritt  einzufordern
Date: Sat, 31 Aug 2002 10:18:42 [PHONE NUMBER REMOVED]
From: Jochen Gester <gester.jochen berlin.de>

Endlich einmal ein Versuch eines linken Journalisten auf die
radikalisierten Formen des neuzeitlichen Kapitalismus nicht nur mit
Regulationskonzepten zu antworten sondern mit einer Grundsatzdiskussion
über "Vergesellschaftung" bzw. "gesellschaftliche Rechte" gegen die
Privatisierung der Früchte der Arbeit.

Nicht ganz kurz. Mit etwas langatmigem Einstieg. Aber dann auf Kernfragen
stoßend.

Gruß Jochen

++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

Fade Globalisierungssoße

Vom Recht der Gesellschaft, ihren Vermögensanteil am technischen
Fortschritt einzufordern / Ein radikales Plädoyer für Umverteilung von
Mathias Greffrath

Wer über die Erfindung der Currywurst und besserer Spritzgussmaschinen
räsoniere, lande unweigerlich und rasch bei der Hartz-Kommission, findet
der in Berlin lebende Journalist Mathias Greffrath. Auf die
Globalisierung, das beschleunigte Überflüssigmachen von Arbeitskraft und
Bewahren sozialer Ungleichheit, gebe es nur eine gesellschaftliche
Antwort: "Wir müssen es als unser selbstverständliches Erbteil
reklamieren, an der Verwandlung von Menschheitswissen in geistiges
Eigentum beteiligt zu werden." Wir dokumentieren die Festrede, die
Greffrath am gestrigen Freitag anlässlich der Einführung des
Schriftstellers Uwe Timm als neuer "Stadtschreiber" von Bergen-Enkheim
gehalten hat.

Kennen Sie Frau Brücker? Nun, Frau Brücker fiel mir wieder ein, als ich
in einem kleinen Ort, fast einem Dorf, in der Schweiz - dort heißt der
oberste Verwaltungsbeamte übrigens wirklich noch Stadtschreiber (und
sieht auch aus wie Gottfried Keller) - Willy traf. Willy ist eigentlich
Koch, aber er arbeitet als international tätiger Pizza- und
Soßendesigner. Der Mann reist die Hälfte des Jahres um die Welt, um neue
Geschmacksmischungen zu suchen, neue Pizza-Kreationen, so heißt das ja
wohl, zu ersinnen, die dann in riesigen Öfen in Serie gehen - eine
Million am Tag allein in Berlin, die dann in gefrorenem Zustand bei Aldi
und Lidl und Migros vertrieben werden. Willy briet uns ein hervorragend
zartes Entrecote an diesem Abend, wir sahen zu, wie es vor unseren Augen
langsam gar wurde, und währenddessen erzählte Willy begeistert von
seiner neuen Mission. Er hatte in den Wochen zuvor sechs neue
Spaghettisoßen komponiert; die sollten ihren Einsatz in neuartigen
Pasta-Automaten finden. Frisch bereitete Pasta al dente in zwei Minuten
mit einer Soße Ihrer Wahl, ohne eine Menschenhand. Das war die
Geschäftsidee.

In zwei Minuten, fragte ich etwas ungläubig, und nicht vorgekocht? Ja,
die Spaghetti seien auch neuartig, sie seien innen hohl, das
Makkaroni-Prinzip auf die Spaghetti übertragen, und dazu würden sie mit
Überdruck gekocht. Eine Wohltat für die Angestellten, die in der
30-Minuten-Pause ihre drei Dollar - oder Euro oder Yen - in den Schlitz
stecken können, die Soße drücken und nach zwei Minuten eine dampfend
frische Ladung Spaghetti herausnehmen. Sechs Soßen, weltweit. China ist
ja jetzt auch in der WTO.

Der Steiner ist ein Genie, sagte Willy. Der Steiner sitzt in Kanada und
sprüht von Geschäftsideen. Der Steiner ist jener Steiner, der von der
deutschen Staatsanwaltschaft wegen irgendwelcher CSU-Machenschaften mit
vielen Spendenmillionen gesucht wird und sich nun in Kanada die Zeit
vertreibt mit gastronomischen Geschäftsideen, die dann weltweit,
patentiert, ein weiteres Glied in der Welt der Ketten werden sollen. Und
Willy ist der Geschmacksglobalisierer.

An jenem Abend fiel mir Frau Brücker ein - die ja bekanntlich, jedenfalls
seit Uwe Timm dieses wirtschaftshistorische und gastronomische Datum in
unser Gedächtnis gerückt hat - an einem nasskalten Dezembertag in
Hamburg der Welt etwas wirklich Neues hinzugefügt hat: Sie hat nämlich
an diesem Tag die Currywurst erfunden. Ob im Jahre 1947 oder 1948 - das
wissen wir nicht genau, denn Dichter sind in diesen wichtigen Fragen
immer etwas schludrig, lieber Uwe Timm, das kann ich Dir nicht ersparen:
Dichter wissen eben immer ganz genau, dass es ein nasskalter Tag war und
dass die Nutten aus dem Billigpuff in der Brahmsstraße, die vor Frau
Brückers Imbiss am Großneumarkt standen, einen verdammt faden Geschmack
im Mund hatten, aber das Jahr, auch nur der Tag, an dem im zerbombten
Hamburg diese epochale gastronomische Neuerung auf den Markt trat, die
sind dem Dichter nicht so wichtig. Eher schon die unnachahmlich anmutige
Handbewegung, mit der Frau Brücker die Soße über die Kalbswurst goss.
Oder die Mitwirkenden und die Zutaten bei ihrer Geschäftsidee, nein, bei
ihrer Erfindung, als da waren: "ein Bootsmann der Marine, ein silbernes
Reiterabzeichen, zweihundert Rehfelle, zwölf Festmeter Holz, eine Whisky
trinkende Wurstfabrikantin, ein englischer Intendanturrat und eine
englische rotblonde Schönheit, drei Ketchupflaschen, Chloroform, der
Vater des Dichters, ein Lachtraum und vieles mehr" - kurz: eine ganze
Geschichte.

Die "Entdeckung der Currywurst" aber ist nicht nur eine wunderbar
spannende und rührende Novelle, sondern eigentlich auch ein Standardwerk
der Wirtschaftswissenschaft. Der Lehre von der unverkürzten Ökonomie.
Und über Ökonomie wollte ich heute eigentlich reden. Genauer gesagt:
über die neue Ökonomie, die wir Globalisierung nennen, oder auch
Wissensgesellschaft, weil wir uns immer noch nicht wieder trauen, den
Kapitalismus mit seinem eigenen Namen zu rufen.

Die Wissensgesellschaft also, was ist das? Ich will es Ihnen an einem
Gegenstand verdeutlichen, der ebenso profan ist wie die Currywurst. Ein
Gegenstand, den Sie alle gut kennen, auf dem Männer täglich mindestens
einmal sitzen und Frauen öfter: auf der Kloschüssel nämlich. Vor einigen
Jahren erklärte mir in einem Computerlabor in Freiburg ein
Datenarbeiter, dass dieser Klassiker immer noch höchst kompliziert
hergestellt wird: Das Granulat ist nicht immer von gleicher Körnigkeit,
die Form ist unregelmäßig, so dass es nicht überall in der gleichen
Dichte in diese Form gepresst werden darf, sonst gibt es beim Brennen
Risse, des Weiteren spielt der Luftdruck mit - kurzum, es gibt immer
sehr viel Ausschuss, und der Brennmeister ist immer noch ein
unverzichtbarer Mensch mit Erfahrung und Fingerspitzengefühl. Eine Art
Alchimist. Er war es. Denn nun wurde in dem Computerlabor in Freiburg
ein Programm entwickelt - ein sehr kompliziertes Programm - das all
diese vielen Variablen in digitale Signale auf einem Chip verwandelt.
Und der steuert nun die Brennöfen, die Pressdichte des Granulats, die
Temperatur und so weiter - und macht so den Brennmeister überflüssig.

Und wie beim Brennen und Sintern, so überall. An den Work Stations der
Automatisierer wird ja, ebenso wenig wie in Willys Pizza-Automaten, etwas
eigentlich Neues erfunden, der Welt etwas hinzugefügt. Sondern es wandert
der Erfahrungsschatz ganzer Berufe in Computerkästchen: das Wissen der
Toningenieure über Klänge, Raumwinkel und Volumina verschwindet in einem
Programm, das die akustische Erfahrung von Generationen entwertet.
Architekten brauchen keine Raumfantasie mehr, wenn sie ihre Skizzen im
dreidimensionalen Video betreten können. Mit diagnostischen
Expertensystemen wird der Arzt zum Knopfdrücker. Wissen, das an
Erfahrung und deshalb an Personen gebunden war, wird nun zu Kapital. Die
Spezialitäten wandern in die digitalen Kästen, die Spezialisten
verlieren, wie vor ihnen die Handarbeiter, an Marktmacht. Denn die
Software, die ihre Erfahrung aufsaugt, die ist nun das "geistige
Eigentum" der Digitalisierer und derer, die das Programm kaufen. Die
Kloschüsseln sind die gleichen, so wie die Pasta Napolitana aus Willys
Automaten keine Erfindung ist; nur ein nicht unerhebliches Quantum an
Zeit wird gespart - und ein paar Menschen verschwinden aus der
Wertschöpfungskette. Und bei denen, die bleiben, breitet sich, wie früher
bei den Bandarbeitern, ein depressives Grundgefühl aus, ein Gefühl der
eigenen Überflüssigkeit, zumindest Ersetzbarkeit.

"Die Bedeutung der Arbeit nimmt ab, die von Wissen - und von Kapital -
nimmt zu." Das ist die Formel, mit der die "neue Ungleichheit" in der
Wissensgesellschaft gerechtfertig wird: die rasante Umverteilung nach
oben, der Druck auf die Löhne, mittelfristig: der Ausschluss eines
Drittels der Bürger aus dem produktiven Gewebe der Gesellschaft. Und
keine Sozialdemokratie steuert mehr dagegen. Was so wahlkampfwortmächtig 
als das Hartz-Programm mit seinen Modulen daherkommt, ist nichts anderes 
als die auf Dauer gestellte staatliche Verwaltung dieser Ungleichheit: 
der Niedriglohnsektor wird offiziell: mit hübschem neuen Namen. Das
Dienstmädchen kehrt zurück - als Ich-AG. Und dem Niedriglohnsektor
entspricht der staatlich verwaltete Niedrigbildungssektor. Bei allen
Bekenntnissen zur Pisa-Not: Wo wäre, in Milliarden ausgedrückt, die
Bildungsoffensive? Wo der Druck der Industrie? Und die allein kann ja
heute noch etwas bewegen. Warum alle jungen Menschen zu
Spezialistenwissen befähigen - wenn nur ein paar nachgefragt werden?
Wachstum geht auch mit Analphabeten, Amerika macht es uns vor. Der
Reichtum unserer Gesellschaften beruht immer stärker auf Kreativität,
geistigen Leistungen und Geschwindigkeit - einer sinkenden Zahl von
Unverzichtbaren. Die anderen sind, wie es so schön heißt:
"Modernisierungsverlierer", oder noch netter gesagt: "eine Unterschicht
von Überforderten". Die werden "alimentiert", haben einen
Niedriggesundheitssektor und eine Niedrigrente. Die Cleveren aber haben
das Recht auf Ungleichheit. Eine Art "Rassismus der Cleverness" macht
sich breit.

Aber, was soll's? Diese Tendenz zur Entwertung von Arbeit und zur
Verdichtung der Zeit ist so alt wie der Kapitalismus - den ich hier
nicht nur beschimpfen will: Er hat die Produktivität der Gesellschaften
ungeheuer gesteigert und damit den Reichtum der Nationen - aber seit
zwei Jahrzehnten steigt die Ungleichheit in den reichen Nationen rasant.

Das ist wegen der Globalisierung, sagen die Politiker und zucken die
Schultern. Aber wer globalisiert da eigentlich? Lassen wir die Multis mal
beiseite, dann sind es die Besitzer von 80 Billionen Dollar Geldvermögen
- das sind 80 000 Milliarden, das entspricht drei Jahresproduktionen der
Industrieländer. Bei uns sind es 4000 Milliarden. Profit aus vergangener
Produktion. Geld, das nach profitabler Anlage sucht.

Die Spekulanten einmal außen vor gelassen: Wo geht dieses Kapital hin?
Zunächst auf andere Kontinente zwecks Herstellung von Volkswagen,
Motorsägen, Toastern, Niveacreme, Handys und anderen unverzichtbaren
Utensilien unseres Alltags. Auf dass die anderen Kontinente uns gleich
werden. Gut. Aber dieses Kapital zahlt bei so gut wie keine Steuern
mehr. Und anderswo auch nicht.

Der zweite Teil widmet sich der Konzentration der kleingewerblichen
Dienstleistungen: Betreuungs- und Pflegemultis entstehen, Pizza-Imperien,
Starbucks-Ketten, Medienkaufhäuser, die Ärzte werden zu Franchise-Nehmern
der Pharma-Multis; der Economist gar begrüßte jüngst, die Legalisierung
der Prostitution würde dem Anlagekapital neue Räume eröffnen. Und
Steiner vertreibt seine Spaghetti-Maschine. Das alles ist enorm
profitabel, aber auch hier entsteht eigentlich nichts Neues in der Welt,
außer Eigentumswechsel und schnellerem Kochen, rationellerem Pflegen,
abgespeckter Beratung und standardisiertem Sex.

Und schließlich kaufen die Geldeigentümer das auf, was kürzlich noch uns
allen gehört hat: den öffentlichen Reichtum: Schwimmbäder und
Sozialwohnungen, Post und Bahn und Wasser werden privatisiert, Schulen
zum Markt der elektronischen Lehrmittelindustrie, Sportvereine veräußern
ihre Grundstücke an Fitness-Center, Krankenhäuser werden zu AGs - und das 
alles mit dem Resultat höherer Rentabilität, sprich: mit teureren 
Leistungen und weniger Arbeitsplätzen. Auch das fügt unserer Welt, 
unserer Sozialstaatsbürgerwelt, nicht nur nichts hinzu, sondern lässt sie
schrumpfen.

Was sollen wir tun, jammern die Stadtkämmerer, wir haben keine
Steuereinnahmen mehr. Und die linken Kämmerer fügen hinzu: Nirgendwo in
der industrialisierten Welt werden so wenig Gewinnsteuern eingetrieben wie
bei uns. Was kann man da tun? Was können die Lena Brückers, die den
Burgerketten weichen, und die Giovanni di Lorenzos, die vor dem
Pasta-Automaten kapitulieren; was können die Brennmeister, deren
Erfahrungen und Marktmacht die Software verschluckt, was die
Bankangestellten, die ihre Kunden kannten, was können die kundigen Damen
im Reisebüro, die nun vor dem Computer verblassen, und was können die
9000, die gerade von Karstadt, die 200 000, die von Gesamtmetall die
blauen Briefe bekommen, was können diejenigen, die schon draußen sind,
und denen die Regierung nun rät, sich als Ich-AG neu zu gründen und sich
eine Infrastruktur zu schaffen - was können sie tun? Wenn schon die
Sozialdemokratie nichts tut? Wo ist eine Position jenseits des
turbokapitalistischen Durchmarsches, der seine Opfer immerhin nicht
eliminiert, sondern alimentiert? Und jenseits des kulturkritischen
Jammerns?

Natürlich kann da nur Politik helfen. Aber sie tut es nicht. Und der
Druck der Bürger lässt auf sich warten. Ich sehe nur eine haltbare
Position: Zunächst aber einmal müssen all diese Modernisierungsopfer,
müssen wir alle uns sagen: Lasset alle Hoffnung fahren. Keine
Hartz-Kommission und kein neues Wachstum werden uns helfen, denn diese
neue Ungleichheit ist keine kurzfristige Misslichkeit, sondern der ganz
normale Gang des Kapitalismus, in dem der jeweils größere Kapitalist,
wie hieß es doch, "mehrere andere totschlägt", und der Unternehmer so
rationell wie möglich - und das heißt, mit so wenig Arbeitskraft wie
möglich - produzieren lässt. Und dabei genau die Maschinen entwickelt,
von denen wir immer geträumt haben.

Es könnte nur anders werden, wenn wir tief verinnerlichen, was da
eigentlich passiert: eine Enteignung nämlich. Eine kalte, schleichende
Enteignung. Eine Enteignung ohne Entschädigung.

Enteignung?

Jeder regt sich auf, wenn Gene patentiert werden. Stopp, rufen die
Kulturkritiker, hier wird Natur privatisiert! Die gehört uns allen! Wenn
die Pharmamultis die Pflanzenkunde indischer Bauern ausnutzen und einen
Baumextrakt patentieren lassen, dann nennen wir es Öko-Imperialismus.
Wenn Bill Gates die digitale Verwertung von Nationalgalerien weltweit
monopolisiert, stöhnt das Feuilleton: Hier wird Gattungsbesitz
usurpiert. Das ist Gemeinbesitz!

Aber wenn das Menschheitserbe an Produktionswissen, wenn die an die
Personen gebundenen Kenntnisse von Brennmeistern, Beleuchtern,
Bergbauingenieuren, von Flugzeugbauern, Feinoptikern und Filmlaboranten
- oder von Currywurst - und Soßeninnovatorinnen digitalisiert und damit
kapitalisiert und globalisiert werden und die Zahl der Menschen ohne
eine anspruchsvolle Arbeit sinkt - dann soll das als normaler
technischer Fortschritt gelten?

Gut, unser Gefühl sträubt sich. Aber wenn dies eine unrechtmäßige
Aneignung ist - worauf sollen wir unseren Eigentumsanspruch stützen?
Worin besteht unser Recht? Wo ist unser Erbschein, mit dem wir unseren
Anteil an den 80 Billionen reklamieren können?

Lassen Sie mich eine kurze Geschichte vorlesen, aus Adam Smiths - der ja
angeblich der Hohepriester des Marktes ist - Buch über den "Reichtum der
Nationen":

"Viele Maschinen", so heißt es dort, "sind ursprünglich von einfachen
Arbeitern erfunden worden. Da sie ständig die gleichen Handgriffe
ausführen mussten, suchten sie nach Methoden, wie sie ihre Tätigkeit
erleichtern könnten. So war bei den ersten Dampfmaschinen ein Junge
dauernd damit beschäftigt, den Durchlass vom Kessel zum Zylinder
abwechselnd zu öffnen und zu schließen. Einer dieser Jungen beobachtete
dabei Folgendes: Verbindet er den Griff des Ventils (. . .) durch eine
Schnur mit einem anderen Teil der Maschine, so öffnet und schließet sich
das Ventil von selbst, und es bleibt ihm dadurch Zeit, mit seinen
Freunden zu spielen."

Der kleine Junge, der mit einem Bindfaden das Ventil an das Schwungrad
band, ist mein Erzheiliger des Fortschritts. Denn er hatte eine
Erfindung gemacht. Und zwar eine doppelte. Nicht nur eine
verfahrenstechnische, sondern eine soziale, und die beiden hängen
zusammen: Er vereinfachte den Arbeitsprozess und gewann dadurch Zeit:
zum Spielen, zum Singen oder zum Lesen. Insofern war er einer der vielen
namenlosen Begründer der Bildungsgesellschaft oder - des Reichs der
Freiheit. Ein Erfinder, denn er hat der Welt wirklich etwas hinzugefügt.
Er hat die Möglichkeiten zu menschlicher Entfaltung und zum Genuss
erweitert.

Aber dieser Fabrikjunge hat seine Entdeckung ebenso wenig patentiert wie
der Brennmeister sein Alchimistenwissen, oder ein Chemieprofessor im 19.
Jahrhundert seine Formeln oder ein Betriebsingenieur seine alltäglichen
Verbesserungen oder Lena Brücker das Rezept für die Currywurst. Er hat
es kostenfrei weitergegeben. Wenn Sie so wollen: an die Menschheit. Und
wozu? Damit mehr Zeit zum Spielen ist. Oder, wie der Genosse Marx sagte:
zu "höhrer Tätigkeit". Und wenn, wie ich gerne annehme, Adam Smiths
Fabrikjunge in der gewonnenen Zeit mit seinen Freunden vier
Wäschestangen zweckentfremdet und mit diesen und einer Schweinsblase ein
neues Spiel erfunden hat, denn irgendwo auf einem Fabrikhof zwischen
Manchester und Liverpool muss es ja auch diesen magischen
Geschichtsmoment gegeben haben, dann hat er auch auf diese Erfindung
keine Lizenzgebühr erhoben. Sondern sie dem Volksvermögen gestiftet. Als
einer der namenlosen Erfinder in der Geschichte der Produktion. Deren
legitime Erben wir alle sind.

Das ist ein sachenrechtlich problematischer, aber nicht unüblicher
Gedanke. "An der Arbeit, die in unsichtbarer Verkettung alle leisten ,
sind alle berechtigt. (. . .) Eigentum, Verbrauch und Anspruch sind
(daher) nicht Privatsache." Schrieb vor knapp hundert Jahren der
AEG-Erbe und Bürger Walter Rathenau.

Warum ist ein Land reich? Warum ein Landstrich kreativ?

Da kommt viel zusammen: Weil ein Fürst mit dem Geld, das er den Bauern
abgepresst hat, eine Akademie der Wissenschaften gegründet hat; weil die
Bürger die Stadtfreiheit erkämpften; weil Seeleute fremde, neue Ideen in
eine Hafenstadt bringen; weil Flüchtlinge härter arbeiten als andere;
weil es eine Religion gibt, die Fleiß als gottgefällig ansieht; weil
zehn begabte Feinmechaniker zehn andere anziehen; weil Bauern in langen
Wintern darauf verfallen, Uhren zu bauen; weil die Regierung eines
Landes, das außer Sand nichts hat, investiert, weil eroberungslustige
Könige Straßen und Arsenale bauen, weil Militärs Chips entwickeln -
kurz, weil die ganze Geschichte einer Region, die ganze Gesellschaft
eines Landes mitproduziert hat.

Und deshalb ist "Wirtschaft keine Sache von Privaten". Für den
bürgerlichen Sozialisten Rathenau folgte aus dieser "unsichtbaren
Verkettung" von Geschichte und Gesellschaft die Forderung, die
"verdienstlosen Massenerben" zu enteignen. Nur zur Erinnerung: Heute
betragen die privaten Nettovermögen in unserem Land - ohne die
Billionen, die außer Landes geschafft werden - rund 7500 Milliarden
Euro. Eine Vermögenssteuer von nur einem Prozent ergäbe 75 Milliarden im
Jahr. Daraus könnte man die Schäden von fünf Fluten pro Jahr beseitigen
oder die gesamte Arbeitslosigkeit finanzieren. Ohne
eitragszahlungen. Oder aber sieben Milliarden Stunden für die
Zivilisierung Europas einsetzen - und anspruchsvolle Arbeit schaffen.
Denn die Armut ist nicht unser Problem; das wäre zynisch: in diesem
Lande von Armut zu reden angesichts des Zustands der Welt. Unser
Zynismus besteht darin: dass wir es uns leisten, nach 200 Jahren
öffentlicher Erziehung den Wanderarbeiter, das Dienstmädchen und den
Tagelöhner wieder einzuführen und das dann noch die flexible,
disponible, moderne Ich-AG zu nennen.

Und das heißt: Die Arbeitslosen von heute und die staatlichen
Leiharbeiter von Herrn Hartz und die frühverrenteten Akademiker und wir
alle werden die wachsende Ungleichheit hinnehmen müssen - die an Geld
und die an Chancen, sinnvoll zu arbeiten, wenn wir nicht wieder anfangen
zu denken wie ein bürgerlicher Radikaler und Millionär vor 100 Jahren.
Wenn wir nicht gegen die 80 Billionen die Erbansprüche geltend machen,
die uns von dem Ventilboy in Manchester, von Lena Brücker, von den
namenlosen Erfindern des Vanillepuddings, der Zentralheizung, der 
Windmühle, des Yoghurts und all den anderen, die der Welt etwas 
hinzugefügt haben, überkommen sind. Auch wenn Geschichte und Arbeit nicht 
patentierbar sind.

Wenn wir es nicht als unser selbstverständliches Erbteil reklamieren, an
der Verwandlung des Menschheitswissens in "geistiges Eigentum" beteiligt
zu werden.

Wenn wir die Forderung nicht als selbstverständlich empfinden, dass die
7,2 Milliarden Arbeitsstunden, die in dieser Gesellschaft pro Jahr
brachliegen, unser aller Erbe sind. Denn sie liegen brach, weil die
Arbeit der Vergangenheit - deren Produktivität auf der "unsichtbaren
Verkettung aller" beruhte, so erfolgreich war. 7,2 Milliarden
Arbeitsstunden zur Verbesserung unseres Lebens, zum Spielen, zum Pflegen
der Alten, zum Erzählen, zum Bewohnbarmachen der Städte, wir sind es den
namenlosen Erfindern schuldig, sie einzuklagen. Und neu zu verteilen.

Die Flaute, die Unlust an der Politik, der unfrohe Gang ins Wahllokal
beruhen vielleicht darauf: dass alle das Gefühl haben, dass nur noch
eine radikale Rückwendung zu diesem gesellschaftlichen Bewusstsein, ich
könnte auch sagen: zum Ernstnehmen der Opfer und der Träume unserer
Eltern und Großeltern, etwas am Gang der Geschichte ändern könnte.

Unterhalb einer solchen, radikalen und zornigen Rückwendungen zu einem
Bewusstsein von Geschichte und Gesellschaft, von, pardon, kollektiven
Errungenschaften werden wir eine Enteignung nach der nächsten über uns
ergehen lassen.

Eine Rückwendung, das heißt auf Lateinisch: Revolution.

Und wer heute noch zur Revolution aufruft, ist eine skurrile Gestalt. So
wie der Mann, um dessen Beerdigung es in Uwe Timms letztem Roman geht.
Der Roman heißt "ROT". Das steht für Sozialismus, und was uns fehlt,
seit er fehlt, das steht für die Farbe, die uns die wärmste ist. Der
Erzähler des Romans, Thomas Linde, ist ein übrig gebliebener 68er, der
Beerdigungsreden hält, gegen Geld, auf Friedhöfen. Unübliche Reden, in
denen die Arbeit der Verstorbenen eine große Rolle spielt. Das, was sie
der Welt hinzugefügt haben, das, was ihre kleine Geschichte mit der
großen Geschichte verbindet. Das, was in den meisten Reden auf
Friedhöfen nicht vorkommt, weil es nicht der Rede wert ist.

Timms Beerdigungsredner, was würde er über Willys, des
Soßenglobalisierers, Leben sagen können? "Er war eigentlich Koch, aber
er reiste um die Welt und entwickelte globalisierte Fertigsoßen. An den
Wochenenden briet er wunderbar zarte Entrecotes. Und hinterher sprach er
leicht ironisch, leicht resignativ, über die große ökonomischen
Maschine, die die Welt immer gleicher macht und die Ungleichheit immer
größer. Seine Arbeit verkaufte er, so gut er konnte, an einen Apparat,
an dessen Zukunft er zweifelte. Seine politische Energie brachte er in
einem Gemeindekulturzentrum ein, in das seine Mitbürger und er sich von
Zeit zu Zeit einen Sänger, eine Rednerin, einen Kritiker einluden. Aber
er blieb in den Grenzen. So wie die meisten von uns."

Aber jedesmal, wenn Sie, die Bürger von Bergen-Enkheim, mit Ihrem Geld
einen Dichter als Stadtschreiber verpflichten, besteht die Gefahr, oder
die Chance, für eine Grenzüberschreitung. Denn Dichter sind Spezialisten
für Wünsche; für Frechheit, die ja die angewandte Freiheit ist; und für
Liebe. Und Stadtschreiber haben, neben der Aufgabe, die laufenden
Geschäfte zu protokollieren, auch die andere: uns Bürger an unsere
Geschichte zu erinnern, und an unsere Erbschaften - auch wenn sie uns
verpflichten könnten, die Erbschaft von Leni Brücker und die eines
Fabrikjungen aus Manchester.

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