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[ox] Ueber's prinzipiell Unertraegliche



[1  <text/plain; ISO-8859-1 (8bit)>]
Hi Listige,
im Anhang, sozusagen als virtuelles Weihnachtsgeschenk
noch ein Text von Erich Ribolitz, den ich besonders gut fand.
Ribolitz in Serie gewissermaßen.

Alles Gute u. bis bald,

Horst
[2 RIBOLI~1.DOC <application/octet-stream>]
[Ich habe das Word-File in ASCII-Text konvertiert - wodurch das Format
eher gewonnen haben dürfte -- SMn]


XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX


Erich Ribolits

KANN DER GLAUBE BERGE VERSETZEN, ODER HILFT ER BLOß DAS PRINZIPIELL
UNERTRÄGLICHE DURCHZUSTEHEN?

ÜBERLEGUNGEN ZU URSACHE UND WIRKUNG DES GLAUBENS, DASS DAS BEWUSSTSEIN DAS
SEIN BESTIMMT



So whatsoever the need of the moment, the sannyasin goes with the moment,
flows with the river. He does not go upstream. He does not have any idea how
things should be. He has no ?ought?. He has no commandments in his mind to
be fulfilled, to be followed. (1)


In Zeiten elementarer gesellschaftlicher Umbrüche ? wenn traditionelle
Sinnbestände sich als nicht mehr ausreichend geeignet erweisen um Sicherheit
zu suggerieren ? haben Sinnstifter Hochkonjunktur. Und die in den
vergangenen Jahrhunderten gängigen sinnstiftenden ?großen Erzählungen? ?
religiöser oder säkular-diesseitiger Art ? stellen sich derzeit in
anwachsendem Maß als untauglich heraus, um im ökonomischen Totalitarismus
der globalen Warengesellschaft die Sehnsucht der Menschen nach Sinn zu
befriedigen. Die Vorstellung, die den Kern aller neuzeitlichen Sinnkonzepte
dargestellt hat, dass das individuelle Dasein aus seinem Beitrag zum
allgemeinen Fortschritt ? also aus dem Mitwirken an der zunehmenden
?Befreiung des Menschengeschlechts? ? Sinn schöpft, erscheint unter den
Bedingungen des fortgeschrittenen Kapitalismus immer absurder. Die im
Gefolge der gewaltigen Steigerung der Produktivkräfte herangewachsene Utopie
eines ?Reichs der Freiheit?, jenseits aller dem Menschen durch Natur und
Gesellschaft auferlegten Zwänge, hat demgemäß in den letzten Jahrzehnten
seine Glaubwürdigkeit nachhaltig eingebüßt. Zwar waren es die durch die
bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsformation geschaffenen
Möglichkeiten, die die Hoffnung auf ein derartiges irdisches Paradies
entstehen ließen, doch das mit derselben Gesellschaftsformation untrennbar
verbundene und alles überstrahlende profitökonomische Nutzenkalkül hat die
Vision der Freiheit inklusive der daraus abgeleiteten Sinnzuschreibung
menschlichen Lebens schlussendlich auch wieder zu Fall gebracht.

Die durch Industrialisierung und Verwissenschaftlichung freigesetzten
Produktivkräfte, die eine Befreiung von Zwang und Bann der Natur
versprachen, lagen von allem Anfang an der Kandare der profitorientierten
Ökonomie. Triebkraft der bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaftsentwicklung war stets die Steigerung der Profitrate und niemals
die Befriedigung der menschlichen Sehnsucht nach freier Entfaltung, Liebe,
Lust und Lebendigkeit. Und so wurde das Leben, das in der Moderne durch
einen gewaltigen Schritt im Begreifen der Natur deren Fremdbestimmung ein
Stück weit entzogen worden war, klammheimlich immer umfassenderen
gesellschaftlichen Sekundärzwängen unterworfen. Allerdings erlaubt die
globalisierte Warengesellschaft immer weniger, diese Zwänge als
gesellschaftliche zu identifizieren; im gleichen Maß in dem die
Verwertungslogik totalitär wird, nimmt sie den Nimbus einer
Naturgesetzlichkeit an. So bleibt ? scheinbar unabänderlich ? schlussendlich
kein Bereich der menschlichen Existenz vom Vermarktungszwang verschont; dem
Sozialwesen Mensch wird immer perfekter die Charaktermaske des
Konkurrenzwesens aufgeherrscht. Die Utopie eines jemals erreichbaren ?Reichs
der Freiheit? und das stets genau darauf abgestellte Fortschrittsversprechen
erscheinen unter solchen Umständen absurd. Und auch die aus der
Fortschrittshoffnung abgeleiteten Sinnangebote der Moderne verlieren ihre
Glaubwürdigkeit. Jene Vorstellung, die seit der Renaissance zunehmend Platz
gegriffen hatte und die das wesentlichste Kennzeichen der Moderne
dargestellt hatte, dass der Mensch Verantwortung für die Geschichte seiner
Gattung trägt und der Sinn seines Daseins darin bestünde, kraft Vernunft und
Willenskraft seine fortschreitende Befreiung voranzutreiben, erscheint
zunehmend unhaltbar.

Weitgehend blind gegenüber der Tatsache, dass das unschuldig präsentierte
Etikett ?Fortschritt? in der gesamten Moderne stets nur dafür gedient hat,
um die für die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung tatsächlich den
Ausschlag gebenden Durchsetzungsmöglichkeiten divergierender Interessen
möglichst zu verdecken, erhält für eine anwachsende Zahl von Menschen der
Versuch einer mündigen Gestaltung der Zukunft selbst eine bedrohliche
Dimension. Immer weniger Menschen glauben heute noch, dass die Instrumente
des Fortschritts ? Wissenschaft, Technik und Politik ? ein Leben in Freiheit
und Glück herzustellen vermögen. Das allgemeine Lebensgefühl wird dagegen
immer mehr von Unsicherheit und Unbehagen gegenüber den aufklärerischen
Verheißungen einer Zukunft, in der es den Menschen zunehmend besser gehen
wird, dominiert. Zugleich geht mit dem sukzessiven Verfall der
Fortschrittsidee aber auch die Hauptstütze des neuzeitlichen Vertrauens in
die Sinnhaftigkeit der Geschichte ? und damit die ?Geschichtlichkeit des
Menschen? insgesamt (2) ? verloren. Eine anwachsende Zahl von Menschen wird
im Zuge des skizzierten Bewusstseinswandels zu dankbaren Abnehmern eines
neuen Glaubens an eine vorgegebene allumfassende Ordnung und einen vom
Menschen unbeeinflussbaren kosmischen Prozess der Evolution, dem es sich
bloß vertrauensvoll zu unterwerfen gilt.

Mit der Uraufführung des Musical ?Hair?, am Broadway im Jahre 1968, wurde
die neue Hoffnung erstmals publikumswirksam formuliert: die kosmische
Konstellation des Wassermann, die nach astrologischen Berechnungen
irgendwann in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts begonnen hat,
wird ein neues, besseres Zeitalter ? ein ?New-Age? ? hervorbringen; und
während das vorherige Zeitalter der Fische, das mit der Geburt von Jesus
Christus begonnen hatte, eine unruhige, von Destruktion und Gewalt
gekennzeichnete, rationalistische und kopfbeherrschte Epoche gewesen ist,
wird der warme, gefühlvolle Wassermann eine Zeit der Harmonie bringen, in
der ohne Kampf und Parteienstreit eine Entwicklung des Menschen zu einem
höheren und edlen kosmischen Bewusstsein stattfinden wird. Die Strukturen
des alten Zeitalters werden ? so die Propheten des ?New-Age? ? nicht durch
Kampf, sondern durch eine ?sanfte Verschwörung? überwunden werden, die an
keine Organisation und bürokratische Form gebunden ist, sondern von einem
Netzwerk aus Menschen getragen wird, die sich dem neuen spirituellen
Bewusstsein gegenüber bereits geöffnet haben. Und je mehr Menschen bereit
sind, im Einklang mit der kosmischen Energie zu ?schwingen?, desto mehr
werden auch neue, humane gesellschaftliche Strukturen entstehen.

Die plakative Aussage der gesellschaftskritischen Protestbewegung der
sechziger Jahre des abgelaufenen Jahrhunderts, dass _das Bewusstsein von
Menschen durch die Umstände ihres gesellschaftlichen Seins bestimmt_ wird,
wurde damit vollständig ins Gegenteil verkehrt. Der nunmehrige neue
Glaubenssatz ? in dem das gesamte New-Age Gedankengebäudes kulminiert ?
lautet, dass _das Sein durch das Bewusstsein bestimmt_ wird. Der Appell zum
kritischen Denken wurde abgelöst durch einen zum _positiven Denken_ und
dieser ist zwischenzeitlich zum Standardinhalt in Managementseminaren,
Erwachsenenbildungsveranstaltungen und Schulen avanciert. Die in
verschiedensten Abwandlungen verkündete Botschaft lautet: was man _wirklich_
will, das kann man auch erreichen ? der Glaube versetzt Berge! So wird je
nach Problemlage empfohlen, mit Hilfe von ?Affirmationen? das eigene
Selbstbewusstsein zu stärken, das angeblich in jedem Menschen verborgene und
weise ?innere Kind? zu hegen, statt auf rationalistische Medizin lieber auf
die Selbstheilungskräfte der Seele zu setzen, für den Frieden zu beten und
sich ? je nach Bedarf ? einen Park- oder einen Arbeitsplatz
herbeizuimaginieren. Sollte sich der Szeneslogan, _?you can get it if you
really want?_ dabei allerdings doch nicht bewahrheiten, dann war der Wunsch
nicht von _völliger innerer Klarheit_ getragen, die Wunscherfüllung war
durch negatives Karma aus vorigen Leben verbaut oder ?das Universum? hat
ganz einfach entschieden, dass man die Sache, nach der das beschränkte
Bewusstsein so giert, tatsächlich gar nicht braucht. Denn ? wie später noch
genauer dargestellt wird ? die Kraft des hochgelobten positiven Denkens
liegt an der Kandare des vorgeblich alles bestimmenden kosmischen Plans. Nur
das _klare_, sich mit dem Kosmos im Einklang befindliche Bewusstsein
bestimmt das Sein. Positives Denken hilft immer ? ?einzige? Ausnahme: eine
zu ?niedrige? Bewusstseinslage des Wünschenden!

Im Gegenzug zur anwachsenden Skepsis gegenüber dem
technisch-naturwissenschaftlichen Fortschrittsglauben erfreut sich heute
alles was sich dem rationalen Begreifen entzieht, zunehmenden Interesses.
Ansichten, die noch vor einem Viertel Jahrhundert rundweg als Aberglaube
abgelehnt worden wären, werden neuerdings öffentlich diskutiert, stellen
seriös aufbereitete Inhalte diverser Zeitgeistmagazine dar und finden in
Form von Büchern, Vorträgen und Seminaren reißenden Absatz. Traditionelle
Mystizismen wie Astrologie, Hellsehen, Kontaktaufnahme mit Geistern oder
Tarotkartenlegen werden dabei genauso vermarktet wie Versatzstücke diverser
Religionen, vorgebliche Geheimlehren oder fernöstliche,
indianisch-schama-nistische, keltische oder aus irgend einem anderen Winkel
der Welt oder einer vergangenen Epoche entlehnte ?spirituelle Weisheiten?.
Besondere Bedeutung kommt dabei einer ? von immer wieder verblüffenden
Naivität getragenen ? oberflächlichen Rezeption des Buddhismus, bzw. dessen,
was dafür gehalten wird, zu. (3) Täglich wird der Supermarkt der neuen
Gläubigkeit ein Stück größer und längst zählt zu den Abnehmern nicht mehr
bloß ein kleiner Kreis esoterischer Grenzgänger. Nach Untersuchungen in
Deutschland haben etwa fünfzig Prozent der Bevölkerung Interesse an Themen,
die im weitesten Sinne des Wortes als übersinnlich bezeichnet werden können.
Eine diesbezüglich in Österreich durchgeführte Repräsentativumfrage ergab,
dass von der hiesigen Bevölkerung 29 Prozent an Astrologie, 37 Prozent gar
an Wunder sowie 34 Prozent daran glauben, dass es Menschen gibt, die
Zukünftiges vorhersagen können. (4)

Aber auch bei jenen, die vom verbreiteten Interesse an Okkultem und als
esoterisch bezeichneten Wissen (noch) nicht unmittelbar angesteckt sind,
lässt sich ein anwachsender Vorbehalt gegen die rationale Wissenschaft und
die Innerweltlichkeit moderner Gesellschaften beobachten. Nur so lässt sich
der Boom erklären, den zum Beispiel alternative, in ihrer Wirkung und ihren
Wirkmechanismen größtenteils kaum untersuchte und einander oft auch
widersprechende Heilmethoden, wie Bachblütenbehandlungen oder traditionelle
chinesische und ayurvedische Medizin, verschiedenste
Psychobeeinflussungstechniken, Meditation und meditative
Entspannungstechniken sowie das Bewandern traditioneller Wallfahrtswege oder
christliche Einkehrtage derzeit erleben. (5) Aber auch fernab aller
vordergründiger neuen Gläubigkeit lässt sich ein Trend weg von der
rationalen Herangehensweise an Fragen des menschlichen Lebens und
gesellschaftlicher Zusammenhänge beobachten. Wesentliches Beispiel dafür ist
die zunehmend um sich greifende Idealisierung der Natur zu einer Art
objektivem Wertmaßstab, wie sie sich im neuen Glaube an natürliche
Hierarchien und an geborene Führerpersönlichkeiten sowie an eine weitgehende
Determinierung des Menschen durch seine Biologie widerspiegelt. Die vor
wenigen Jahrzehnten in Form eines Buchtitels proklamierte ?sanfte
Verschwörung? (Marilyn Ferguson) war offenbar auf ganzer Linie erfolgreich,
die Ideologie des New-Age hat sich klammheimlich in faktisch allen
gesellschaftlichen Bereichen eingenistet.

Es wurde schon darauf hingewiesen, dass eine wesentliche Ursache für das
Umsichgreifen der neuen Transzendenzorientierung im zunehmenden Zweifel an
bisher weitgehend anerkannten, diesseitsgerichteten Sinnversprechungen und
Erlösungshoffnungen gesehen werden kann. Es ist das, wovon die Analysten der
Postmoderne sprechen, wenn sie das ?Ende der großen Erzählungen
konstatieren: jene Vorstellungen, die den Menschen Jahrhunderte lang Sinn
und Orientierung für ihr Leben suggeriert haben ? die ?Götter der Moderne? ?
haben ihre Strahlkraft eingebüßt. Die Wurzeln dieser nun offensichtlich an
ihr Ende kommenden Vorstellungen reichen bis in die Renaissance zurück.
Damals war eine Entwicklung in Gang gekommen, die schlussendlich zum totalen
Bruch mit der mittelalterlichen Auffassung geführt hatte, dass das irdische
Leben bloßes Durchgangsstadium wäre, dessen Sinn sich einzig aus der
Orientierung am Jenseits ableiten ließe. Im Gegenzug zu einer sukzessiven
Relativierung der Macht der Vorsehung entwickelte sich damals ein
zunehmendes Vertrauen in die Kraft der Vernunft und in die Freiheit des
Menschen, was dazu führte, dass der Sinn des menschlichen Dasein immer mehr
aus seiner Fähigkeit abgeleitet wurde, das Schicksal seiner Gattung durch
Intelligenz und Willenskraft selbst zu bestimmen. (6)  Der Mensch begann,
sich als verantwortlich für seine Geschichte zu empfinden ? ein
entscheidender Bewusstseinswandel, der unzweifelhaft berechtigt damals den
Beginn einer neuen Epoche anzusetzen.

Doch genau dieses die Moderne kennzeichnende Paradigma wird heute zunehmend
wieder infrage gestellt. Seit dem letzten Viertel des zwanzigsten
Jahrhunderts lässt sich beobachten, dass das Bewusstsein einer anwachsenden
Zahl von Menschen von der Vorstellung geprägt ist, dass das bisherige
Generalrezept der Moderne ? das Vorantreiben der Entwicklung auf der Basis
rational entwickelter Vorstellungen einer ?guten? Zukunft ? für die großen
gesellschaftlichen Probleme nicht bloß ungeeignet ist sondern diese
überhaupt erst verursacht hat. Die drei großen Umbrüche ? die
_wirtschaftliche Globalisierung_ mit einer weitgehenden Kastration der
politischen Möglichkeiten der Nationalstaaten, der
_informationstechnologische Entwicklungsschub_ mit seinen tiefgreifenden
Irritationen hinsichtlich der Fähigkeit der Menschen sich in Zeit- und Raum
zu verorten und schließlich die _genetische Revolution_ mit der Horrorvision
der industriellen und an Abnehmerinteressen ausgerichteten Produktion von
Menschen, lassen einer anwachsenden Zahl von Menschen eine durch
Wissenschaft, Technik und Politik hergestellte, positive Zukunft immer
unwahrscheinlicher erscheinen. Das Vertrauen in die Kraft der menschlichen
Vernunft ist tiefgreifend gestört. Immer häufiger wird die Angst
artikuliert, dass die Fähigkeit des Menschen die Natur zu überformen, nicht
Schritt hält mit seinen Möglichkeiten die Folgen seines Tuns abzuschätzen;
die verbreitete Ansicht lautet, dass der Mensch nicht mehr der Herr über
?die Geister? sei, die er rief. Die Aussage, dass der im Fortschrittsgedanke
artikulierende Glaube an den ?Gott der Technologie? (7) viel häufiger
Ursache als Lösung für aktuelle Menschheitsprobleme ist, wird heute
vermutlich von einem Großteil der Bevölkerung geteilt.

Noch viel bedeutsamer als der Vertrauensbruch gegenüber Wissenschaft und
technologischen Fortschrittsversprechungen ist das rapide um sich greifende
Misstrauen hinsichtlich des dritten Aspekts des rationalen Konzepts der
Moderne ? der Politik. Der Glaube an deren Lösungskompetenz ist
möglicherweise noch weitgehender angeschlagen. Ein deutliches ? wenn auch
bei weitem nicht das einzige ? Indiz dafür sind die regelmäßig geringer
werdenden Wahlbeteiligungen bei faktisch allen demokratischen Entscheidungen
in den Industriestaaten. Politik kann heute ? wo sich die
Handlungsspielräume einzelner Staaten durch die Globalisierung der
Weltwirtschaft immer stärker einengen ? immer weniger das darstellen was sie
im bürgerlichen Staat stets zu sein vorgab: ein Prozess des rationalen
Aushandeln und der Beeinflussung der Machtverteilung zwischen verschiedenen
gesellschaftlichen Interessensgruppen. Immer offensichtlicher und
eindimensionaler muss sie sich heute auf das Schaffen optimaler
Kapitalverwertungsbedingungen in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich
reduzieren. Damit wird aber nur offenkundig was in der kapitalistischen
Moderne im Prinzip immer schon galt: was zwei Jahrhunderte lang als
Instrument des demokratischen Interessensausgleichs gepriesen worden war,
kann unter den Bedingungen der Warengesellschaft niemals Ausdruck ?freien
Kräftespiels? sein. Politik im bürgerlichen Staat vermag sich stets nur
innerhalb jenes Spielraums zu bewegen, den die Verwertungslogik beim jeweils
aktuellen Entwicklungsstand der Warengesellschaft zulässt. In der
globalisierten Ökonomie gerät die demokratische Legitimierung der
systemgeschuldeten Profitmaximierungszwänge aber zunehmend zum
Anachronismus; wenn sich die Ökonomie nicht mehr in den Begrenzungen der
(nationalen) Politik abspielt, sondern Politik in jenen der (globalisierten)
Ökonomie, reduziert sich Demokratie auf die Funktion eines Feigenblatts.

Nun sind sich zwar sicher nur die wenigsten Menschen der Tatsache bewusst,
dass Politik ? in der aktuellen Erscheinungsform eines Korrelats des
bürgerlichen Staates (8) ? die Grenzen der kapitalistischen Ökonomie nicht
zu sprengen imstande ist. Sie nehmen aber durchaus wahr, dass es zunehmend
gleichgültig ist, welche Partei sie wählen. Politik, die immer unmittelbarer
bloß noch an der Befriedigung der Interessen des global agierenden Kapitals
orientiert sein muss, zwingt alle Parteien zu einer im Kern immer identer
werdenden Programmatik; Unterschiede zeigen sich bestenfalls noch an einer
zunehmend dünner werdenden Oberfläche. Die ist aber nicht in der Lage
Alternativen zu verkörpern mit denen es sich ernsthaft auseinander zu setzen
lohnt. Zwar bemühen sich Politiker aller Couleurs krampfhaft um eine
möglichst markttaugliche Inszenierung dieses äußeren Erscheinungsbildes
ihrer jeweiligen politischen Fraktion. Damit lässt sich im günstigsten Fall
aber bloß ein kurzzeitiger Punkteerfolg erreichen, eine Identifizierung der
Menschen mit Politik und politischen Gruppierungen kann damit jedoch nicht
hergestellt werden. Die um sich greifende Politikabstinenz ist in diesem
Sinn auch nicht Effekt einer schlechten Performance der Politik; sie rührt
vielmehr aus der diffusen Erkenntnis einer anwachsenden Zahl von Menschen,
dass Politik gar nicht rationale Auseinandersetzung aufgeklärter Bürger ist,
sondern das bloße Herunterbrechen der mit der Unerbittlichkeit von
Naturgesetzen in Erscheinung tretenden Logik der Warengesellschaft auf die
legislative Ebene der Staaten. Demgemäß lässt sich das anwachsende
Desinteresse an Politik auch nur unzureichend mit dem Etikett
?selbstverschuldete Unmündigkeit? charakterisieren; es stellt vielmehr ?
genauso wie die skizzierte Wissenschafts- und Technikskepsis ? bloß eine
Facette jener angesprochenen pessimistischen Haltung gegenüber den
menschlichen Möglichkeiten einer mündigen Gestaltung der Zukunft dar.

Begreift man das massenhafte Umsichgreifen des neuen Glaubens an eine
universelle Ordnung als Suchbewegung im Zusammenhang mit dem
fortschreitenden Unglaubwürdigwerden bürgerlicher Rationalität, wird auch
erklärbar, warum sich gerade sogenannte ?Linke? als besonders anfällig für
die New-Age Ideologie erweisen. Sich als ?links? oder ?fortschrittlich? zu
fühlen, bedeutet in der Regel ja bloß für Gerechtigkeit, Humanität, Toleranz
und Demokratie einzutreten. Fast durchwegs wird dabei so getan, als ob es
eine Frage des guten Willens und der Bereitschaft der Gewinner im allseits
zum ?Wettbewerb? schöngeredeten Konkurrenz_kampf_ wäre, ein wenig auf ihre
Privilegien zu verzichten, damit sich die bürgerliche Gesellschaft zu einem
Hort des allgemeinen Wohlbefinden wandelt. Dass der Ruf nach ?vernünftigen
Regeln zur ?Zivilisierung des Marktsystems? allerdings ähnlich absurd ist,
wie der Wunsch, in einem ?Mensch ärgere dich nicht? Spiel sollen alle
Beteiligten ihre Spielsteine im Gleichtakt über das Spielfeld bewegen und
zeitgleich im Zielfeld einlangen, wird kaum je thematisiert. Dieses
blauäugige Kritisieren der Inhumanität eines Systems, dessen Grundprämisse
Inhumanität ist, war lange Zeit ja auch recht problemlos möglich gewesen.
Solange das warenproduzierende System durch die permanente Ausweitung der
inneren und äußeren Märkte den Spielraum für oberflächliche
?Verschönerungsmaßnahmen? geboten hatte, konnte man ja tatsächlich recht
leicht der Illusion eines ?Kapitalismus mit menschlichem Antlitz? verfallen.
Seit allerdings das System immer unübersehbarer an seine Grenzen stößt und
es im Sinne ökonomischer Rationalität schlichtweg ?nicht mehr vernünftig ist
? die seiner Logik geschuldeten inhumanen Effekte zu übertünchen, beginnt
sich das ?linkskritische Bewusst-sein? ? das die Logik des
warenproduzierenden Systems niemals verlassen hat sondern stets integraler
Bestandteil desselben war ? scheibchenweise aufzulösen.

Die, stets der ?Rationalität? und nicht der ?Intellektualität
verpflichtete, ?humanitäre Linke?  erweist sich heute durch die Tatsache
paralysiert, dass rationales Denken immer nur in den _Nutzen_kategorien der
jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Situation möglich ist. Vernünftig ?
im Sinne von logisch-rational ? ist immer das, was dem aktuellen System
nützt. Vernunft ist eine Funktion der konkreten Machtverhältnissen; in
Abwandlung eines Zitats von Rosa Luxemburg lässt sich formulieren: die
herrschende Vernunft ist immer die Vernunft der Herrschenden. Wer somit zur
Unvernunft, die ?ökonomische Rationalität? ? einschließlich des ihr
innewohnenden Zwangs zur ?konstruktiven? Kritik! ? hinter sich zu lassen,
nicht bereit oder nicht fähig ist, dessen Bemühen um Gerechtigkeit,
Humanität, Toleranz und Demokratie fördert immer bloß avanciertere Formen
des warenproduzierenden Systems. Er wirkt nur mit an einer fortschreitenden
?Rationalisierung? (sic!) des Kapitalismus. Da heute allerdings weit und
breit kein neues ? rationaleres ? Stadium der kapitalistischen Entwicklung
in Sicht ist, das sich noch einmal mit dem Etikett ?fortschrittlich? belegen
ließe, läuft die den Formkategorien der bürgerlichen Modernisierung
verhaftete ?Kritik der Anständigen? gegenwärtig immer offensichtlicher ins
Leere. Das auf ökonomische Rationalität eingeschworene ?linkskritische
Bewusstsein? vermag sich in dieser Situation letztendlich nur mehr selbst
als obsolet zu erklären. Die Hoffnung auf kosmische Hilfe und der Abschied
von der Vorstellung einer vom Menschen gemachten Geschichte ist die
_logische_ Konsequenz systemgebundenen Denkens ? die Flucht in die
Irrationalität ist rationaler Ausfluss der irrationalen gesellschaftlichen
Rationalität!

Noch bis in die Siebzigerjahre des abgelaufenen Jahrhunderts war das
allgemeine Bewusstsein von der Erwartung an eine Zukunft geprägt, in der es
möglich sein würde für immer größere Teile der Bevölkerung eine fortlaufende
Verbesserung ihrer Lebensumstände herzustellen. Die grundsätzliche
Problematik einer auf permanentes Wachstum programmierten Ökonomie und die
sich daraus ergebenden Effekte für den Bedarf an Energie- und Rohstoffen
sowie die Beseitigung der unbrauchbar gewordenen Fortschrittsprodukte waren
bestenfalls in avanciertesten Kreisen kritischer Intellektueller
Diskussionsthemen, wurden aber gemeinhin als technologisch lösbar angesehen.
Die Zukunft galt im wesentlichen nur durch Krieg und hypertrophe
Waffensysteme in den Händen machtbesessener Politiker gefährdet. Dieser,
quasi nur durch die Angst vor dem Missbrauch der technologischen
Möglichkeiten getrübte Fortschrittsoptimismus war jenes sichere Fundament,
auf der das gesellschaftskritische Gedankengut der sogenannten
Achtundsechzigerbewegung heranwachsen konnte. Frei von Ängsten bezüglich
einer durch Ressourcenmangel oder technischem Overkill bedrohten Zukunft und
auf der Grundlage eines unendlichen Optimismus in Hinblick auf eine
politisch gestaltbare gesellschaftliche Entwicklung, konnten Fragen der
Chancenverteilung, der demokratischen Verfasstheit der Gesellschaft und der
Gerechtigkeit ?radikal? thematisiert werden. Zugleich schuf die Erwartung
einer materiell gesicherten Zukunft aber auch die Basis für eine
grundsätzliches Infragestellen bürgerlich-materieller Werte, womit die
Achtundsechzigerbewegung die Initialzündung für ihre eigene Antithese
setzte. Jene Bewegung, die angetreten war um die Verteilung des
gesellschaftlichen Reichtums nach ?gerechteren? Gesichtspunkten zu ordnen,
setzte den Keim für die Idealisierung einer Lebensorientierung jenseits von
Macht und materieller Ausrichtung.

Kritik an der die Modere begründenden Rationalität ist durchaus kein
Phänomen der letzten Jahrzehnte; von Anfang an gab es Stimmen, die vor den
Gefahren einer einseitigen Ausrichtung an Vernunft und Rationalität gewarnt
haben. Eine Reihe bekannter Philosophen und Kulturkritiker haben
diesbezüglich Texte vorgelegt. (9) Das Unbehagen an der Moderne mündete auch
immer wieder in antimodernistischen Zeitströmungen von denen zum Teil große
Teile der Bevölkerung erfasst waren. An erster Stelle ist hier die Epoche
der Romantik des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts zu nennen, die sich
explizit als Gegenbewegung zu Klassizismus und Aufklärung begriff. Auch die
am Übergang vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert parallel mit der
Reformpädagogik entstandene, unter der damaligen Jugend weit verbreitete
Wandervogelbewegung richtete sich gegen die Vorherrschaft der Vernunft und
war von einer Kritik an Zivilisation und moderner Technik getragen, von der
behauptet wurde, dass sie den Menschen der natürlichen harmonischen
Lebensweise entfremde. (10) Und schließlich hat auch die gegen die
Wohlstands- und Leistungsgesellschaft gerichtete Protestbewegung der
sogenannten Hippies ? in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ?
ein Leben in friedvoller, freier und natürlicher Gemeinschaft idealisiert.
Allen diesen Bewegungen war ein Glorifizieren von Natur und natürlicher
Ordnung gemeinsam. Natur wurde dabei jeweils gleichgesetzt mit etwas Echtem,
Ursprünglichem und Harmonischem, das dem Menschen verloren gegangen ist und
in dessen Schoß er sich wieder zurückbegeben muss. Die Fähigkeit und Not des
Menschen, sein Leben nach Kriterien gestalten zu können und zu müssen, die
sich aus der Natur nicht ableiten lassen, sondern ganz im Gegenteil, nur
durch rationale _Abgrenzung von der Natur_ entwickelt werden können, war
diesen Ansätzen fremd.

Das Gedankengebäude des New-Age unterscheidet sich allerdings in einem
wesentlichen Punkt ganz grundsätzlich von bisherigen Gegenströmungen zur
Moderne. Es speist sich nicht aus der Vorstellung einer ?Bewegung?, die ? in
guter aufklärerischer Tradition ? durch Überzeugungsarbeit und Einsicht
verbreitet wird und in der Menschen durch gemeinsame Anstrengung ein
bestimmtes Ziel zu erreichen versuchen. Auch wenn fallweise von einer
Bewusstseins_revolution_ gesprochen wird, gibt es da niemanden der einen
politischen (-revolutionären) Akt in Gang bringen will, statt dessen wird
eine ?Zeitenwende? postuliert, die sich aufgrund eines unaufhaltsam
wirksamen kosmischen Prozess der Evolution _unabhängig vom Menschen_
erfüllt. Hier werden eindeutig bisherige, die Moderne konterkarierende
Denkansätze überschritten. Diese haben das Paradigma der Aufklärung, dass
der Mensch frei ist über sein Schicksal zu entscheiden, ja niemals infrage
gestellt; verurteilt wurde bloß die Uneinsichtigkeit des Menschen, seine
hypertrophe Vermessenheit sich über Natur und natürliche Ordnung zu erheben.
Die Kritik bewegte sich in der Dimension des ?irregeleiteten Bewusstseins?,
war aber stets getragen von der Vorstellung, dass der Mensch sein Verhältnis
zur Natur autonom gestalten könne, er also _Subjekt_ seiner Geschichte ist.
Die New-Age Botschaft lautet dagegen, dass der Mensch _Objekt_ von Abläufen
ist, die kosmischen Gesetzmäßigkeiten folgen. Die Vorstellung, sich über die
übergeordnete, universelle Macht erheben zu können, stellt in diesem
Weltbild bloß ein durch den Verstand vorgegaukeltes Trugbild dar, von dem in
letzter Konsequenz alles menschliche Leid verursacht wird.

Auf diese Art wird im New-Age-Gedankengebäude auf ganz spezifische Weise
auch die Idee der menschlichen Verantwortung ins Gegenteil der bisherigen
Bedeutung verdreht. Verantwortung hat nun nichts mehr mit der Forderung nach
_Mündigkeit_ zu tun, mit der Not des Menschen, _kraft seiner intellektuellen
Fähigkeit_ permanent Antworten auf die ?Fragen des Lebens? finden zu müssen.
Nun wird damit die vorgebliche Tatsache angesprochen, dass der Mensch sein
Schicksal _aufgrund transzendenter Mechanismen_ selbst steuert. Nachdem die
Fähigkeit des Menschen geleugnet wird, sein Leben _mit Hilfe des Verstandes_
beeinflussen zu können, ist er im Sinne einer rationalen Betrachtungsweise
zwar aus der Verantwortung entlassen; in metaphysischem Sinn wird ihm aber
zugleich um so stärker (Mit-)Schuld angelastet. Denn in der Ideologie des
New-Age ist ja alles was dem einzelnen Individuum oder Menschengruppen
zustößt in spezifischer Form _selbst verursacht_. Das beginnt mit der
Vorstellung, dass sich jede ?Seele? selbst aussucht, wo und unter welchen
Begleitumständen sie inkarniert und gipfelt in der Annahme, dass widrige
Lebensumstände, wie Krankheit oder soziale Deprivation, aber auch Überfälle,
Vergewaltigungen und Mord vom ?innersten Selbst? der jeweils Betroffenen ?
das quasi ein Korrelat der universellen Ordnung darstellt ? herbeigeführt
werden. Behauptet wird, dass Glück und Unglück vom jeweiligen Menschen ?
klammheimlich ? veranlasst werden, um daran ?wachsen? zu können; jeder
Mensch führt ? obwohl er sich dessen zumeist nicht bewusst ist und er sich
?oberbewusst? etwas ganz anderes wünscht ? genau solche Begleitumstände
seines Lebens herbei, die ihm eine Weiterentwicklung _auf
karmisch-spiritueller Ebene_ ermöglicht. Eine typische Szene-Aussage, die
diesen entmündigenden, zugleich aber schuldzuweisenden Ansatz
charakterisiert, lautet deshalb auch: ?Du bekommst nicht das was du willst,
aber genau das was du tatsächlich brauchst?. Wird aber alles was jemanden
passiert, ?in Wirklichkeit? ? _ohne dass er allerdings davon weiß!_ ? von
ihm selbst herbeigeführt, dann ist er letztendlich ? _ohne allerdings zu
wissen warum!_ ? an seinem Schicksal auch immer selbst schuld. Entsprechend
der Vorstellung, dass das Bewusstsein das Sein bestimmt, sind es nicht mehr
?von außen? wirkenden Bedingungen die das Leben in eine objektiv mehr oder
weniger glückhafte Bahn drängen; die Umstände des Lebens gelten bis zur
letzten Konsequenz als ?selbst verschuldet?.

Dementsprechend lautet das Grundrezept des New-Age auch nicht rationale
Analyse zur Entwicklung von Strategien _gegen_ die ?Notdurft des Daseins?.
Ein sinnerfülltes, zufriedenes Leben wird jenen Menschen versprochen, die
bereit sind sich der universellen Ordnung zu fügen und demütig ihr
?Schicksal als Chance? zu akzeptieren sowie anzuerkennen, dass sie nicht
?Krone der Schöpfung? sondern bloß Element innerhalb von Abläufen sind, die
ihrem Verstand niemals völlig zugänglich sind. Gefordert wird, mit den
Umständen des Lebens nicht zu hadern, sondern alles was einem passiert, als
?Spiegel der Seele? wahr- und vor allem auch hinzunehmen. Der sich im
Schicksal angeblich offenbarende Sinn soll ?angenommen? werden. Denn ? so
die immer wieder vorgebrachte Mahnung ? wenn es nicht gelingt, sich derart
von negativem Karma zu ?erlösen?, muss mit weiteren ? umso heftigeren,
sinn-vollen ? Schicksalsschlägen gerechnet werden. Das New-Age Denken
konterkariert gewissermaßen die Tatsache, dass Sinn als Bewertungskategorie
menschlichen Handelns in der Warengesellschaft vom übermächtigen ?
ökonomischen ? Nutzen nahezu vollständig verdrängt worden ist. In genauso
totalitärer Form wird nun behauptet, dass _allen Dingen und Geschehnissen
Sinn_ zukommt. Allerdings findet dabei zugleich eine Begriffsumdeutung
statt. Sinn ist nun nämlich nichts mehr was durch den Menschen bestimmt
wird, es hat nichts mehr mit jenem reflektierten Verhältnis zu tun, das der
Mensch gegenüber der Welt einzunehmen imstande ist. Nicht mehr der Mensch
ist es, der Dingen und Geschehnissen Sinn zuschreibt, diese gelten als
sinnvoll an sich. Um ?Frieden zu finden? ist dieser allgegenwärtige Sinn
bloß zu bejahen, was in der Szenesprache dann als ?für sein Leben die
Verantwortung übernehmen? bezeichnet wird.

Hier offenbart sich das Grundprinzip des gesamten New-Age Gedankengebäudes:
es stellt gleichermaßen idealistisches Gegenkonzept zu den
Entfremdungsbedingungen der fortgeschrittenen Warengesellschaft, wie auch
deren ideologischen Überbau dar. Im Weltbild des New-Age werden Ideale
propagiert, die der politisch-gesellschaftlichen Realität vielfach konträr
gegenüberstehen. Zugleich wird allerdings der Status Quo als ein dem
Menschen auferlegtes ? sinn-volles ? Schicksal dargestellt, von dem man sich
nur innerlich distanzieren kann, indem man es ?annimmt?. Die ?Kritik? bewegt
sich auf der gleichen Ebene wie das Jammern über einen verregneten Sommer.
Auch Träume von monatelangen Badewetter ändert nichts daran, dass Menschen
das Wetter für vorgegeben halten und ihnen deshalb nichts anderes übrig
bleibt, als sich mit den jeweiligen Wetterbedingungen zu arrangieren. Wenn
die Apologeten des New-Age eine friedliche Welt idealisieren, in der alle
?Geschöpfe? glücklich und harmonisch miteinander leben, handelt es sich
dabei nicht um den sprichwörtlichen Traum, aus dem ?die Kraft zum Kämpfen
erwächst (Che Guevara), sondern um das Opium, das einlullt und jede
gesellschaftlich relevante Aktivität verhindert. Deshalb kann das unter dem
Titel New-Age zusammengefasste Gedankengebäude nicht als harmlose
Zeitgeisterscheinung abgetan werden kann. Es ist nichts anderes als die den
derzeitigen Systembedingungen entsprechende Ideologie, die erträglich macht,
was längst unerträglich geworden ist; verhindert wird bloß die Verzweiflung
an der Sinnlosigkeit des Lebens in der fortgeschrittenen Warengesellschaft.

Anmerkungen:
(1) Aus dem Brief, den der Autor dieses Textes seinerzeit vom Office des
Bhagwan Shree Rajneesh (späteren Osho) anläßlich der Übergabe der ?Mala? ?
dem Symbol des Sannyasin (= Jünger) ? erhielt, als er für kurze Zeit selbst
sein Heil in der New-Age Szene suchte.
(2) ?Geschichtlichkeit? ist ? wie Bauer/Matis in ihrem Buch ?Geburt der
Neuzeit? (München, 1988) sehr klar darstellen ? das Bewusstsein eines in
Bezug auf ein finales Ziel rational argumentierbaren Ablaufs von
Ereignissen. Ohne Fortschrittsidee bringt die Beschäftigung mit ?vergangenen
Zeiten und Kulturen? dem Menschen keinerlei ?sinnvollen? Erkenntnisse.
Letztendlich wir damit das ?Ende der Geschichte? deklariert!
(3) Eine etwas andere Sichtweise des Buddhismus in seiner tibetischen
Variante liefern: Colin Goldner: Dalai Lama ? Fall eines Gottkönigs.
Aschaffenburg 1999, sowie: Victor und Victoria Trimondi: Der Schatten des
Dalai Lama. Sexualität, Magie und Politik im tibetischen Buddhismus.
Düsseldorf 1999.
(4) KURIER, 8. Sept. 2001, S. 23.
(5) Keinesfalls soll mit dieser Aufzählung suggeriert werden, dass die
beispielhaft angeführten Hilfs- und Heilmittel allesamt wirkungslos wären.
Hingewiesen soll bloß darauf werden, dass bei all diesen Dingen in der Regel
der ?Glaube? und nicht die kritische Überprüfung der ?Vater der Anwendung
ist.
(6) In meinem Buch, Die Arbeit hoch? (München-Wien 1995) stelle ich dar,
dass der skizzierte Übergang von der jenseits- zur diesseitsorientierten
Ausrichtung des Lebens auch einen grundsätzlichen Wandel in der Haltung zur
Arbeit und zum Arbeiten bewirkt hat. Während Arbeit vorher als etwas gesehen
worden war, das der Notdurft der Existenz geschuldet ist, bekommt sie in der
Moderne einen zunehmend ?guten Ruf" und tritt in das Zentrum der
menschlichen Sinnsuche.
(7) Die Bezeichnung ?Götter? für die diversen großen Erzählungen der Moderne
übernehme ich von Neil Postman, der in seinem Buch, Keine Götter mehr ? Das
Ende der Erziehung (Berlin 1995) moniert, dass schulisches Handeln heute an
keinem transzendentalen Sinn mehr ausgerichtet ist.
(8) Wie Franz Schandl in seinem Artikel ?Politik. Zur Kritik eines
bürgerlichen Formprinzips? (Context, Wien 6/95) nachweist, ist es ein Irrtum
anzunehmen, dass Politik ein überhistorisches Phänomen ist, sie quasi
parallel zur menschlichen Gesellschaftlichkeit immer schon in Erscheinung
getreten ist; tatsächlich stellt sie jedoch kein abstakt-ontologisches,
sondern ein konkret-historisches Phänomen dar. Sie ist ? auch wenn sie wie
andere Termini des öffentlichen Bereichs aus der Antike übernommen ist ? ein
Phänomen der Moderne, was sich beispielsweise auch darin äußert, dass
Politik als Begriff im deutschen Sprachraum frühestens mit und nach 1848
Karriere machte.
(9) Zu nennen sind hier z.B.: Jean Jacques Rousseau, Henry David Thoreau,
Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Karl Jaspers
sowie Günther Anders, Theodor Adorno und Max Horkheimer.
(10) Vgl.: Die Wandervogelbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
http://www.deutsch.pi-noe.ac.at/inesem/pfei_wander.htm








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