[ox] Re: [ox] Ergänzung
- From: KXX4493553 aol.com
- Date: Tue, 17 Jul 2001 03:42:35 EDT
In einer eMail vom 17.07.01 08:18:43 (MEZ) - Mitteleurop. Sommerzeit schreibt
casimir.purzelbaum utopix.net:
Ich bin mir sicher, Dir würden/werden noch viel mehr
Beispiele einfallen. Doch das, was die Relevanz für
Oekonux ausmacht, dachte ich, ist doch der Bezug auf
die Entwicklung der Ökonomie (als einer besonderen Seite
der Entwicklung der Gesellschaft).
Vielleicht kannst Du _diese_Seite_ noch ein bischen
ausführlicher darstellen (auch auf die Gefahr hin, daß
sich dadurch vielleicht die Zahl der Beispiele zugunsten
ihrer Verständlichkeit im Oekonux-Zusammenhang reduzieren
würde...)
Oh mein lieber Casimir... das war nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt
und eine Handvoll Beispiele. Ich habe ja nur die allerwichtigsten Strömungen
ganz kurz skizziert, mehr als Stichworte waren das nicht.
Zum Abschluss möchte ich nur einen aus den 60ern erwähnen, und der hat
wirklich Bezug zum Thema: Oswald Wiener, Die Verbesserung von Mitteleuropa,
Roman, Reinbek b. Hamburg, April 1972 (rororo). Eine Fundgrube für
Informatiker, die auch ein wenig literarisch interessiert sind (die soll's ja
auch noch geben, oder?). Das ist eine wilde Mixtur aus Sprachphilosophie,
Essay, Erzählung, SF... "postmodern" at its best.Das Pendant zur
"Informationsgesellschaft" ist in der Literatur die wilde Mixtur der Genres.
Zentrum des Ganzen ist allerdings bei Wiener die "Erfindung" eines sog.
"Bio-Adapters", eines Mensch-Maschine-Systems (eines Cyborgs, wenn man so
will, aber auch den Begriff hat die NASA bereits in den 60ern erfunden), und
das Ganze liest sich als böswillige und hellsichtige Parodie auf die
modischen Diskurse von heute, vom "geklonten" Menschen bis zum
"Transhumanismus". Wiener hat den neuen Technowahn der Milleniums-Zeiten
vierzig Jahre vorweggenommen. Schon erstaunlich, wenn man das heute wieder
liest. (Jedenfalls: wenn man die "Neuromancer"-Trilogie liest, aus der ja
angeblich der Begriff "Cyberspace" stammen soll, so wirkt die verglichen
damit wie ein müder Abklatsch).
Der Bezug zu "Oekonux", was die im engeren Sinne ökonomischen und
gesellschaftstheoretischen Aspekte angeht, wird ganz klar über die
Situationisten hergestellt (s. dazu auch: Stephan Grigat: Der Fetisch im
Spektakel. Zur Gesellschaftskritik Guy Debords, in: Jungle World Nr. 20/2001
vom 9. Mai 2001, S. 15-18). Robert Kurz und die Krisis-Leute berufen sich
auch auf sie und sehen sich in der Traditionslinie von Debord & Co. Einer der
ersten situationistischen Kritiker, der sich selber allerdings nicht als
solcher bezeichnete, war der französische Philosoph Henri Lefebvre (der auch
von Grigat erwähnt wird), der Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre
eine "Kritik des Alltagslebens" veröffentlichte (noch bei Suhrkamp
erhältlich, so viel ich weiß). Lefebvre kann als Bindeglied zwischen
Sürrealismus und Situationismus begriffen werden: es war eine Kombination von
Marx'scher Ökonomiekritik und eben einer "Phänomenologie des Alltagslebens"
(seine Ödnis und falsche Routine..., ein allgemeines Unbehagen am
Arbeitsfetisch und Produktionismus). Guy Debords "Gesellschaft des
Spektakels" und sein Pamphlet über das "Elend im Studentenmilieu" waren
zentrale Texte für den Mai 68 und seine Forderung "Die Phantasie an die
Macht" und "Unter dem Pflaster liegt der Strand" (nein, nein, keine
68er-Nostalgie, aber man hat mich gefragt). Die Situationisten entwarfen
alternative Gesellschaftsmodelle, die sie als permanente "Konstruktion von
Situationen" begriffen, und wenn man das durchliest, erinnert einen das doch
sehr an das, was man bei opentheory so lesen kann, oder bei Raymond ("how to
become a hacker"...). Der Unterschied besteht darin, dass damals vor 35, 40
Jahren die technologischen Möglichkeiten für diese Vorstellungen erst in
Ansätzen zur Verfügung standen und vieles im Bereich des Spekulativen oder
Fantastischen verblieb.
In Deutschland ist es vor allem Franz Böckelmann, der in diesem Zusammenhang
zu erwähnen wäre. Böckelmann war in den 60ern selbst Mitglied der
Situationistischen Internationale, die sich vor allem durch ständige
Spaltungen und Streitereien auszeichnete (das hatte auch was Sektenhaftes an
sich), und im Jahre 1975 legte Böckelmann eine Studie vor "Theorie der
Massenkommunikation" (Ffm., Suhrkamp), die eine sehr gewagte Mixtur aus
Luhmann, Marx und Situationismus darstellt. Vordergründig geht es in diesem
Buch um eine Kritik der herkömmlichen Massenkommunikationsforschung und eine
Analyse der Massenmedien (Fernsehen), aber die Vorstellungen von Böckelmann
weisen viele Parallelen zu Negt/Kluge "Öffentlichkeit und Erfahrung" von 1972
auf, die ja der "bürgerlichen Öffentlichkeit" eine "proletarische
Produktionsöffentlichkeit" entgegenstellten, die für Negt/Kluge in nuce schon
in den Massenmedien potenziell angelegt war. Für Böckelmann war die Sache
allerdings etwas komplizierter, er meinte, es reiche nicht, die Trennung von
Sender und Empfänger aufzuheben, sondern die gesellschaftlichen Gruppen
sollten die herkömmliche Trennung in gesellschaftliche Subsysteme aufheben
und die Massenmedien als Vehikel für gesellschaftliche
Selbstverständigungsprozesse begreifen, andernfalls gebe es noch mehrere
Jahrhunderte Kleinfamilie. Womit er ja wohl Recht hatte.
Die Struktur der herkömmlichen Massenmedien ist so angelegt - und das ist ein
Dilemma, das auch Böckelmann nicht so recht zu lösen vermag -, dass sie eben
Medien für die Massen sind, d. h. dass ein Sender einem diffusen Publikum von
Empfängern gegenübersteht. Das nennt man auch Einweg-Kommunikation. Damit das
überhaupt funktionieren kann, sind die Massenmedien als Medien für die Massen
so angelegt, dass nur Themen als relevant betrachtet werden, die "möglichst
alle angehen". Damit wird auch der "demokratische Grundkonsens" hergestellt,
der im Wesentlichen darin besteht, dass das Publikum passiv bleibt und der
Sender - sendet.
Die modernen Digitalmedien sind nun etwas anders strukturiert. Das
"Interaktive" stimmt insofern, als die Digitalmedien (wie sonst vielleicht
nur das Telefon) irgendwo ein "Zwitter" sind, einerseits Massenmedien im oben
beschriebenen Sinne und andererseits eben doch, wenn auch abstrakte und
"entkörperlichte", "Face-to-face"-Medien. D. h. sie schaffen parzellierte
Öffentlichkeiten (z. B. über Mailinglisten), die sich auch an bestimmten
Themen hochranken, aber diese Themen schaffen eben den oben erwähnten
"Grundkonsens" nicht mehr, d. h. sind nicht mehr allgemein genug, um ein
Massenpublikum zu erreichen, sondern eben nur bestimme "Insider" und
"Bescheidwisser". Das heißt dann aber auch, dass die Digitalmedien und das
Internet von ihrer technologischen Auslegung und ihrer organisatorischen
Verfasstheit her zwar prinzipiell den "Austausch Aller mit Allen" potenziell
ermöglichen, aber lediglich in der Schrumpfform der gegeneinander
abgeschottenen Teilöffentlichkeiten, die oftmals gar nichts voneinander
wissen und nebeneinander her existieren, ohne sich zur Kenntnis nehmen zu
müssen (um zu funktionieren, sind diese Teilöffentlichkeiten nicht darauf
angewiesen, sich untereinander zu vernetzen). Das bedeutet dann im Klartext,
dass sie einer weiteren Aufspaltung und Parzellierung der Gesellschaft in
viele Untersysteme und "Neigungsgrüppchen" allein schon von ihrer Struktur
her Vorschub leisten. Das ist dann eine reale Gefahr.
Kurt-Werner Pörtner
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