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In einer eMail vom 17.07.01 08:18:43 (MEZ) - Mitteleurop. Sommerzeit schreibt 
casimir.purzelbaum utopix.net:

Ich bin mir sicher, Dir würden/werden noch viel mehr 
 Beispiele einfallen. Doch das, was die Relevanz für
 Oekonux ausmacht, dachte ich, ist doch der Bezug auf
 die Entwicklung der Ökonomie (als einer besonderen Seite 
 der Entwicklung der Gesellschaft).
 
 Vielleicht kannst Du _diese_Seite_ noch ein bischen
 ausführlicher darstellen (auch auf die Gefahr hin, daß
 sich dadurch vielleicht die Zahl der Beispiele zugunsten
 ihrer Verständlichkeit im Oekonux-Zusammenhang reduzieren
 würde...) 

Oh mein lieber Casimir... das war nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt 
und eine Handvoll Beispiele. Ich habe ja nur die allerwichtigsten Strömungen 
ganz kurz skizziert, mehr als Stichworte waren das nicht.

Zum Abschluss möchte ich nur einen aus den 60ern erwähnen, und der hat 
wirklich Bezug zum Thema: Oswald Wiener, Die Verbesserung von Mitteleuropa, 
Roman, Reinbek b. Hamburg, April 1972 (rororo). Eine Fundgrube für 
Informatiker, die auch ein wenig literarisch interessiert sind (die soll's ja 
auch noch geben, oder?). Das ist eine wilde Mixtur aus Sprachphilosophie, 
Essay, Erzählung, SF... "postmodern" at its best.Das Pendant zur 
"Informationsgesellschaft" ist in der Literatur die wilde Mixtur der Genres. 
Zentrum des Ganzen ist allerdings bei Wiener die "Erfindung" eines sog. 
"Bio-Adapters", eines Mensch-Maschine-Systems (eines Cyborgs, wenn man so 
will, aber auch den Begriff hat die NASA bereits in den 60ern erfunden), und 
das Ganze liest sich als böswillige und hellsichtige Parodie auf die 
modischen Diskurse von heute, vom "geklonten" Menschen bis zum 
"Transhumanismus". Wiener hat den neuen Technowahn der Milleniums-Zeiten 
vierzig Jahre vorweggenommen. Schon erstaunlich, wenn man das heute wieder 
liest. (Jedenfalls: wenn man die "Neuromancer"-Trilogie liest, aus der ja 
angeblich der Begriff "Cyberspace" stammen soll, so wirkt die verglichen 
damit wie ein müder Abklatsch).

Der Bezug zu "Oekonux", was die im engeren Sinne ökonomischen und 
gesellschaftstheoretischen Aspekte angeht, wird ganz klar über die 
Situationisten hergestellt (s. dazu auch: Stephan Grigat: Der Fetisch im 
Spektakel. Zur Gesellschaftskritik Guy Debords, in: Jungle World Nr. 20/2001 
vom 9. Mai 2001, S. 15-18). Robert Kurz und die Krisis-Leute berufen sich 
auch auf sie und sehen sich in der Traditionslinie von Debord & Co. Einer der 
ersten situationistischen Kritiker, der sich selber allerdings nicht als 
solcher bezeichnete, war der französische Philosoph Henri Lefebvre (der auch 
von Grigat erwähnt wird), der Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre 
eine "Kritik des Alltagslebens" veröffentlichte (noch bei Suhrkamp 
erhältlich, so viel ich weiß). Lefebvre kann als Bindeglied zwischen 
Sürrealismus und Situationismus begriffen werden: es war eine Kombination von 
Marx'scher Ökonomiekritik und eben einer "Phänomenologie des Alltagslebens" 
(seine Ödnis und falsche Routine..., ein allgemeines Unbehagen am 
Arbeitsfetisch und Produktionismus). Guy Debords "Gesellschaft des 
Spektakels" und sein Pamphlet über das "Elend im Studentenmilieu" waren 
zentrale Texte für den Mai 68 und seine Forderung "Die Phantasie an die 
Macht" und "Unter dem Pflaster liegt der Strand" (nein, nein, keine 
68er-Nostalgie, aber man hat mich gefragt). Die Situationisten entwarfen 
alternative Gesellschaftsmodelle, die sie als permanente "Konstruktion von 
Situationen" begriffen, und wenn man das durchliest, erinnert einen das doch 
sehr an das, was man bei opentheory so lesen kann, oder bei Raymond ("how to 
become a hacker"...). Der Unterschied besteht darin, dass damals vor 35, 40 
Jahren die technologischen Möglichkeiten für diese Vorstellungen erst in 
Ansätzen zur Verfügung standen und vieles im Bereich des Spekulativen oder 
Fantastischen verblieb. 

In Deutschland ist es vor allem Franz Böckelmann, der in diesem Zusammenhang 
zu erwähnen wäre. Böckelmann war in den 60ern selbst Mitglied der 
Situationistischen Internationale, die sich vor allem durch ständige 
Spaltungen und Streitereien auszeichnete (das hatte auch was Sektenhaftes an 
sich), und im Jahre 1975 legte Böckelmann eine Studie vor "Theorie der 
Massenkommunikation" (Ffm., Suhrkamp), die eine sehr gewagte Mixtur aus 
Luhmann, Marx und Situationismus darstellt. Vordergründig geht es in diesem 
Buch um eine Kritik der herkömmlichen Massenkommunikationsforschung und eine 
Analyse der Massenmedien (Fernsehen), aber die Vorstellungen von Böckelmann 
weisen viele Parallelen zu Negt/Kluge "Öffentlichkeit und Erfahrung" von 1972 
auf, die ja der "bürgerlichen Öffentlichkeit" eine "proletarische 
Produktionsöffentlichkeit" entgegenstellten, die für Negt/Kluge in nuce schon 
in den Massenmedien potenziell angelegt war. Für Böckelmann war die Sache 
allerdings etwas komplizierter, er meinte, es reiche nicht, die Trennung von 
Sender und Empfänger aufzuheben, sondern die gesellschaftlichen Gruppen 
sollten die herkömmliche Trennung in gesellschaftliche Subsysteme aufheben 
und die Massenmedien als Vehikel für gesellschaftliche 
Selbstverständigungsprozesse begreifen, andernfalls gebe es noch mehrere 
Jahrhunderte Kleinfamilie. Womit er ja wohl Recht hatte.

Die Struktur der herkömmlichen Massenmedien ist so angelegt - und das ist ein 
Dilemma, das auch Böckelmann nicht so recht zu lösen vermag -, dass sie eben 
Medien für die Massen sind, d. h. dass ein Sender einem diffusen Publikum von 
Empfängern gegenübersteht. Das nennt man auch Einweg-Kommunikation. Damit das 
überhaupt funktionieren kann, sind die Massenmedien als Medien für die Massen 
so angelegt, dass nur Themen als relevant betrachtet werden, die "möglichst 
alle angehen". Damit wird auch der "demokratische Grundkonsens" hergestellt, 
der im Wesentlichen darin besteht, dass das Publikum passiv bleibt und der 
Sender - sendet. 

Die modernen Digitalmedien sind nun etwas anders strukturiert. Das 
"Interaktive" stimmt insofern, als die Digitalmedien (wie sonst vielleicht 
nur das Telefon) irgendwo ein "Zwitter" sind, einerseits Massenmedien im oben 
beschriebenen Sinne und andererseits eben doch, wenn auch abstrakte und 
"entkörperlichte", "Face-to-face"-Medien. D. h. sie schaffen parzellierte 
Öffentlichkeiten (z. B. über Mailinglisten), die sich auch an bestimmten 
Themen hochranken, aber diese Themen schaffen eben den oben erwähnten 
"Grundkonsens" nicht mehr, d. h. sind nicht mehr allgemein genug, um ein 
Massenpublikum zu erreichen, sondern eben nur bestimme "Insider" und 
"Bescheidwisser". Das heißt dann aber auch, dass die Digitalmedien und das 
Internet von ihrer technologischen Auslegung und ihrer organisatorischen 
Verfasstheit her zwar prinzipiell den "Austausch Aller mit Allen" potenziell 
ermöglichen, aber lediglich in der Schrumpfform der gegeneinander 
abgeschottenen Teilöffentlichkeiten, die oftmals gar nichts voneinander 
wissen und nebeneinander her existieren, ohne sich zur Kenntnis nehmen zu 
müssen (um zu funktionieren, sind diese Teilöffentlichkeiten nicht darauf 
angewiesen, sich untereinander zu vernetzen). Das bedeutet dann im Klartext, 
dass sie einer weiteren Aufspaltung und Parzellierung der Gesellschaft in 
viele Untersysteme und "Neigungsgrüppchen" allein schon von ihrer Struktur 
her Vorschub leisten. Das ist dann eine reale Gefahr.


Kurt-Werner Pörtner
 
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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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