Re: [ox] Wieder mal: Vergesellschaftung
- From: RalfKrae aol.com
- Date: Fri, 9 Feb 2001 09:36:55 EST
Hallo Stefan und alle,
(bei der Mailflut ist es schwer die Bezüge aufrechtzuerhalten):
nicht nur das, es wird mir auch allmählich zuviel.
Gut. Wahrscheinlich behaupten wir jetzt beide von uns, jeweils nicht
von Form oder Inhalt abzusehen, sondern die Inhalt-Form-Dialektik in
ihrer Bewegung begreifen zu wollen. Angenommen, das ist so, dann
bleibt noch die Perspektive: Du guckst sozusagen von heute oder
innen auf den Inhalt-Form-Zusammenhang und überlegst von da, wie er
entwickelbar/verbesserbar ist. Ich gucke sozusagen von übermorgen
oder außen auf den gleichen Zusammenhang, aber mit einer völlig
anderen Vorstellung davon wie der Zusammenhang beschaffen sein kann.
Würd ich nicht so abstrakt entgegensetzen. Ausgangspunkt müssen aber, auch
für Nachdenken über mögliche Alternativen und Betrachten von dem Standpunkt
aus dann, die Realitäten sein, wenn es materialistisch bleiben und nicht in
idealistische Spekulation und irreale Utopie abgleiten soll. Und für den
realen Prozess der gesellschaftlichen Veränderung gilt immer, dass er aus der
alten Gesellschaft irgendwie hervorgeht und es einen Übergang gibt und dass
nicht einfach irgendwann und irgendwie alles ganz anders ist. Nun kommt
sicher die Formulierung mit den "Keimformen" als Antwort. Ja, ja, aber ob
bestimmte Entwicklungen Keimformen sind, entscheidet sich nicht, indem einige
sie dazu ernennen, und dann bleibt immer noch die Frage, wie sie sich in der
alten Gesellschaft weiter entwickeln und dann die qualitative Veränderung
abläuft.
Genug der allgemeinen Vorrede, jetzt zu deiner Entgegnung:
> Ich hatte eine idealtypische Gegenüberstellung gemacht, die dieser
> Allgemeinheit nicht nur für den Kapitalismus zutrifft, sondern für jede
> Gesellschaft mit Arbeitsteilung, in der in Bezug auf bestimmte Produkte
> ProduzentInnen und KonsumentInnen nicht identisch sind.
Nein, Du ontologisierst. Das ist meine Kritik. Was an Deiner
Idealtypik ist "allgemein-menschlich", was ist
"warenförmig-spezifisch"? Eine ganz entscheidende Frage, die wir
schon ein paar Mal am Wickel hatten.
"Ontologisieren" hier nur ein Globalvorwurf, der weitere Begründung ersparen
soll, und den ich nicht gelten lasse. Dann sag konkret: entweder schwebt dir
eine Gesellschaft vor ohne Arbeitsteilung oder ohne die Notwendigkeit zu
Arbeit überhaupt (das sehe ich allerdings als allgemein menschlich an,
darüber ist schon mal diskutiert worden), dann stellen sich in der Tat die
hier diskutierten Fragen nicht (ich finde das aber dann erst recht falsch),
oder erklär mir was Arbeitsteilung bedeuten soll, wenn es nicht bedeutet,
dass in Bezug auf bestimmte Produkte ProduzentInnen und KonsumentInnen nicht
identisch sind.
... 2. verstehst du anscheinend immer nur
Form, wo ich vom Inhalt, vom über den Kapitalismus hinaus und auch ohne
Wertform fortbestehenden Inhalt spreche, >
Also jetzt zerreisst Du Inhalt und Form. Der Inhalt besteht fort -
natural, ewig, ontisch - und sucht sich immer nur eine neue Jacke,
die er sich als Form überstreift?
Da der Inhalt kein Subjekt ist, sucht er gar nichts. Es geht um konkret og.
Frage, ob auch ohne Kapitalismus Arbeit und ihre gesellschaftliche Teilung
nötig ist. Bitte um konkrete Antwort. darum geht es auch in dem Marx-Zitat,
um nicht mehr.
Ja, hier naturalisiert Marx, das kritisiere ich bei Marx und bei
Dir. Marx ist kein Heiliger. Und Marx hat sich - soweit ich das
überschaue - durchaus sich selbst widersprechend unterschiedlich
geäußert. Wahrscheinlich ist er deswegen so schön als
Zitatensteinbruch für völlig inkompatible Positionen nutzbar.
Wie gesagt, der Naturalisierungs oder Ontologisierungsvorwurf ist in dieser
Pauschalität belanglos. Bzgl. Marx Widersprüchlichkeit stimme ich zu, wobei
ich in Gesamttendenz einen Erkenntnisfortschritt im Lebensverlauf annehme.
> 1. sind es schon in der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft
> verschiedene Vergesellschaftungsformen in verschiedenen Lebensbereichen
> und selbst in der Wirtschaft kombiniert, allerdings unter der Dominanz
> kapitalistischer Tausch- bzw. Wertvergesellschaftung.
Ja, welche denn?
Jetzt kommen wir wohl zu einem Kern der Kontroverse. Es gibt in der real
existierenden bürgerlichen Gesellschaft nicht nur kapitalistische Produktion,
es gibt auch Arbeit im familiären bzw. Haushaltszusammenhang oder auch in
Alternativprojekten, die keine Warenproduktion ist, es gibt diverse
Institutionen und Gruppen, die unentgeltlich ihre Leistungen abgeben oder
Betriebe, die zumindest damit keinen Profit erwirtschaften, sondern
subvesntioniert werden (sog. Non-Profit-Sektor, 3. Sektor), es gibt den
öffentlichen Dienst und öffentliche Unternehmen, es gibt Leute, die Freie
Software in die Welt setzen, es gibt die Umverteilung großer Teile des
Volkseinkommens über den Staat und die Sozialversicherungen - das findet
alles nicht außerhalb, sondern in der bürgerlichen, kapitalistischen
Gesellschaft statt, und trotzdem ist das alles nicht kapitalistische
Organisation. Für den gesellschaftlichen Lebensprozess insgesamt spielen
darüber hinaus Formen der Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft eine enorme
Rolle, die man ebenfalls nicht so schlicht als nur dem Kapital unterworfen
begreifen kann.
> 2. kann ich mir
> durchaus Vergesellschaftung z.B. über Verhandlung, freie Vereinbarung
> vorstellen, aber auch eine andere Bedeutung politischer
Vergesellschaftung
> und Planung etc.
Verrats mir (BTW: was ist denn politische Vergesellschaftung - was
ist nicht-politische?)
Politische Vergesellschaftung im engeren Sinne meine ich Vergesellschaftung
über den Staat in seinen verschiedenen Ebenen und Sektoren.
> 3. vermute ich, dass auch in künftigen nichtkapitalistischen
> Gesellschaften verschiedene Vergesellschaftungsformen miteinander
kombiniert
> sein werden, allerdings nicht mehr unter der Dominanz der
kapitalistischen.
War das dann eine Revolution? Ist das in deiner Vorstellung ein
evolutionärer oder revolutionärer Übergang? Handelt es sich um
Aufhebung der warenförmigen Vergesellschaftung? Wie willst Du dahin
kommen?
Der Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft z.B. war eine
Revolution. Als soziale Revolution betrachtet dauerte sie in Westeuropa große
Teile des 18. und 19. Jahrhunderts, einschließlich längerer eher regressiver
Phasen. Für mich bedeutet Überwindung des Kapitalismus nicht, dass es
keinerlei Warenproduktion mehr geben darf, sondern dass kapitalistische
Produktion nicht mehr die Gesellschaft dominieren darf. Wie ich mir das
vorstelle, habe ich doch nun schon mehrmals ansatzweise geschrieben, u.a. in
meiner mail vom 10.12.00. Ich halte die Fixierung auf die Abschaffung der
"Wertvergesellschaftung" bzw. des Geldes für eine falsche abstrakte Negation,
selbst für einen Fetischismus. Anders als Sklaverei und Leibeigenschaft
beruht bürgerliche Gesellschaft und Warenproduktion auf persönlicher Freiheit
und ist darum nicht wie die einfach abzuschaffen.
Demokratie ist kein leeres neutrales Mittel, was
man nutzen oder lassen kann, sondern notwendiger Teil der
warenförmigen Vergesellschaftung. Daraus folgt, das diese
"demokratisch" nicht aufhebbar ist. Das sieht die Freie Software
intuitiv auch so: "Demokratie" spielt dort so gut wie keine Rolle,
denn sie hat andere Vermittlungsmechanismen gefunden, die
angemessener sind.
Weil es in der FS nicht nötig ist, daraus folgt wie gesagt nicht, dass
Gesellschaft insgesamt so laufen kann. Demokratie ist widersprüchlich in
ihren Prämissen und Wirkungen, radikalisiert ist sie sozialistisch, gegen
kapitalistische Herrschaft gerichtet, weshalb die herrschende Klasse sie in
engen Grenzen zu halten bestrebt ist.
> Weil sonst prozessieren die
> Widersprüche ggf. in Formen, die noch wesentlich unangenehmer,
> herschafts- und auch gewaltförmiger sind.
Das tun sie schon. Dein Hororszenario ist kein Resultat von Staats-
und Herrschaftslosigkeit, sondern Ergebnis von Staat und Herrschaft.
Und das kannst Du Dir in RL heute angucken.
Sicher gibt es viele Beispiele, wo das Fehlen eines funktionierenden Staates
unter gegebenen Verhältnissen zu Horrorszenarien gegenwärtig schon führt. Mit
funktionierendem Rechtsstaat ist der Horror um >95 % minimierbar (rein
subjektiv bewertet von mir), und die Bedingungen sind dann angenehmer für
fast alle Beteiligten für Überwindung von Klassenherrschaft strategisch
besser.
Doch, das Problem besteht darin, dass Du Dich nicht von der
Warenproduktion im Kopf lösen kannst. Wenn nichtwarenförmige
Alternativen Dir zu schlicht erscheinen, dann denk doch daran mit,
diese Schlichtheit zu beseitigen. Mach es überzeugender. Jedes Neue
ist doch notwendig unklar, schlicht, grob - sonst wäre es kein
Neues. Wie denkst Du, ist die Quantenphysik entstanden - plopp, und
da war sie in voller Detailliertheit und Größe?
Ich habe wie gesagt meine Vorstellungen halbwegs erläutert und sehe hier
wenig Notwendigkeit, das weiter auszuführen. Dazu laufen dann anderswo die
qualifizierteren Debatten über sozialistische Programmatik und Strategie, ist
ja hier auch nicht der Anspruch. Ich hatte auf Stefan Mertens Kritik daran
reagiert, dass ich auf absehbare Zeit materielle Anreize und Warenproduktion
für unverzichtbar halte. Die Kritik, die ich bisher gehört habe, bestand im
Prinzip in der Aussage, ohne Kapitalismus und Warenproduktion gäbe es
überhaupt kein Problem der Koordination einer differenzierten
gesellschaftlichen Arbeitsteilung, oder es ließe sich im Einzelnen über
argumentative Aushandlung lösen. Ich habe versucht zu begründen, wieso mir
das unrealistisch erscheint. Ich bekomme zu hören, das Probem wär nur, ich
hätte mich nicht von der Warenproduktion geistig gelöst, also faktisch: ich
würde deshalb falsch fragen. Oder ich solle doch selber bessere Antworten
suchen, wenn mir die geäußerten nicht reichen. Ich meine dagegen: Fragen
können nicht falsch sein. Und wer behauptet, er habe eine Alternative, muss
sich schon die Fragen gefallen lassen und selber versuchen, darauf bessere
Antworten zu finden.
Beste Grüße
Ralf Krämer
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