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Re: [ox] Wieder mal: Vergesellschaftung



Hallo Stefan und alle,

(bei der Mailflut ist es schwer die Bezüge aufrechtzuerhalten):

nicht nur das, es wird mir auch allmählich zuviel.
 
 Gut. Wahrscheinlich behaupten wir jetzt beide von uns, jeweils nicht
 von Form oder Inhalt abzusehen, sondern die Inhalt-Form-Dialektik in
 ihrer Bewegung begreifen zu wollen. Angenommen, das ist so, dann
 bleibt noch die Perspektive: Du guckst sozusagen von heute oder
 innen auf den Inhalt-Form-Zusammenhang und überlegst von da, wie er
 entwickelbar/verbesserbar ist. Ich gucke sozusagen von übermorgen
 oder außen auf den gleichen Zusammenhang, aber mit einer völlig
 anderen Vorstellung davon wie der Zusammenhang beschaffen sein kann.
 
Würd ich nicht so abstrakt entgegensetzen. Ausgangspunkt müssen aber, auch 
für Nachdenken über mögliche Alternativen und Betrachten von dem Standpunkt 
aus dann, die Realitäten sein, wenn es materialistisch bleiben und nicht in 
idealistische Spekulation und irreale Utopie abgleiten soll. Und für den 
realen Prozess der gesellschaftlichen Veränderung gilt immer, dass er aus der 
alten Gesellschaft irgendwie hervorgeht und es einen Übergang gibt und dass 
nicht einfach irgendwann und irgendwie alles ganz anders ist. Nun kommt 
sicher die Formulierung mit den "Keimformen" als Antwort. Ja, ja, aber ob 
bestimmte Entwicklungen Keimformen sind, entscheidet sich nicht, indem einige 
sie dazu ernennen, und dann bleibt immer noch die Frage, wie sie sich in der 
alten Gesellschaft weiter entwickeln und dann die qualitative Veränderung 
abläuft.

 Genug der allgemeinen Vorrede, jetzt zu deiner Entgegnung:

 > Ich hatte eine idealtypische Gegenüberstellung gemacht, die dieser
 > Allgemeinheit nicht nur für den Kapitalismus zutrifft, sondern für jede
 > Gesellschaft mit Arbeitsteilung, in der in Bezug auf bestimmte Produkte
 > ProduzentInnen und KonsumentInnen nicht identisch sind.
 
 Nein, Du ontologisierst. Das ist meine Kritik. Was an Deiner
 Idealtypik ist "allgemein-menschlich", was ist
 "warenförmig-spezifisch"? Eine ganz entscheidende Frage, die wir
 schon ein paar Mal am Wickel hatten.
 
"Ontologisieren" hier nur ein Globalvorwurf, der weitere Begründung ersparen 
soll, und den ich nicht gelten lasse. Dann sag konkret: entweder schwebt dir 
eine Gesellschaft vor ohne Arbeitsteilung oder ohne die Notwendigkeit zu 
Arbeit überhaupt (das sehe ich allerdings als allgemein menschlich an, 
darüber ist schon mal diskutiert worden), dann stellen sich in der Tat die 
hier diskutierten Fragen nicht (ich finde das aber dann erst recht falsch), 
oder erklär mir was Arbeitsteilung bedeuten soll, wenn es nicht bedeutet, 
dass in Bezug auf bestimmte Produkte ProduzentInnen und KonsumentInnen nicht 
identisch sind.

... 2. verstehst du anscheinend immer nur
Form, wo ich vom Inhalt, vom über den Kapitalismus hinaus und auch ohne
Wertform fortbestehenden Inhalt spreche, >  

 Also jetzt zerreisst Du Inhalt und Form. Der Inhalt besteht fort -
 natural, ewig, ontisch - und sucht sich immer nur eine neue Jacke,
 die er sich als Form überstreift? 

Da der Inhalt kein Subjekt ist, sucht er gar nichts. Es geht um konkret og. 
Frage, ob auch ohne Kapitalismus Arbeit und ihre gesellschaftliche Teilung 
nötig ist. Bitte um konkrete Antwort. darum geht es auch in dem Marx-Zitat, 
um nicht mehr.
 
 Ja, hier naturalisiert Marx, das kritisiere ich bei Marx und bei
 Dir. Marx ist kein Heiliger. Und Marx hat sich - soweit ich das
 überschaue - durchaus sich selbst widersprechend unterschiedlich
 geäußert. Wahrscheinlich ist er deswegen so schön als
 Zitatensteinbruch für völlig inkompatible Positionen nutzbar.

Wie gesagt, der Naturalisierungs oder Ontologisierungsvorwurf ist in dieser 
Pauschalität belanglos. Bzgl. Marx Widersprüchlichkeit stimme ich zu, wobei 
ich in Gesamttendenz einen Erkenntnisfortschritt im Lebensverlauf annehme.

 > 1. sind es schon in der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft
 > verschiedene Vergesellschaftungsformen in verschiedenen Lebensbereichen 
 > und selbst in der Wirtschaft kombiniert, allerdings unter der Dominanz
 > kapitalistischer Tausch- bzw. Wertvergesellschaftung.
 
 Ja, welche denn?
 
Jetzt kommen wir wohl zu einem Kern der Kontroverse. Es gibt in der real 
existierenden bürgerlichen Gesellschaft nicht nur kapitalistische Produktion, 
es gibt auch Arbeit im familiären bzw. Haushaltszusammenhang oder auch in 
Alternativprojekten, die keine Warenproduktion ist, es gibt diverse 
Institutionen und Gruppen, die unentgeltlich ihre Leistungen abgeben oder 
Betriebe, die zumindest damit keinen Profit erwirtschaften, sondern 
subvesntioniert werden (sog. Non-Profit-Sektor, 3. Sektor), es gibt den 
öffentlichen Dienst und öffentliche Unternehmen, es gibt Leute, die Freie 
Software in die Welt setzen, es gibt die Umverteilung großer Teile des 
Volkseinkommens über den Staat und die Sozialversicherungen - das findet 
alles nicht außerhalb, sondern in der bürgerlichen, kapitalistischen 
Gesellschaft statt, und trotzdem ist das alles nicht kapitalistische 
Organisation. Für den gesellschaftlichen Lebensprozess insgesamt spielen 
darüber hinaus Formen der Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft eine enorme 
Rolle, die man ebenfalls nicht so schlicht als nur dem Kapital unterworfen 
begreifen kann.

 > 2. kann ich mir
 > durchaus Vergesellschaftung z.B. über Verhandlung, freie Vereinbarung
 > vorstellen, aber auch eine andere Bedeutung politischer 
Vergesellschaftung
 > und Planung etc.
 
 Verrats mir (BTW: was ist denn politische Vergesellschaftung - was
 ist nicht-politische?)
 
Politische Vergesellschaftung im engeren Sinne meine ich Vergesellschaftung 
über den Staat in seinen verschiedenen Ebenen und Sektoren.

 > 3. vermute ich, dass auch in künftigen nichtkapitalistischen
 > Gesellschaften verschiedene Vergesellschaftungsformen miteinander 
kombiniert
 > sein werden, allerdings nicht mehr unter der Dominanz der 
kapitalistischen.

 War das dann eine Revolution? Ist das in deiner Vorstellung ein
 evolutionärer oder revolutionärer Übergang? Handelt es sich um
 Aufhebung der warenförmigen Vergesellschaftung? Wie willst Du dahin
 kommen?

Der Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft z.B. war eine 
Revolution. Als soziale Revolution betrachtet dauerte sie in Westeuropa große 
Teile des 18. und 19. Jahrhunderts, einschließlich längerer eher regressiver 
Phasen. Für mich bedeutet Überwindung des Kapitalismus nicht, dass es 
keinerlei Warenproduktion mehr geben darf, sondern dass kapitalistische 
Produktion nicht mehr die Gesellschaft dominieren darf. Wie ich mir das 
vorstelle, habe ich doch nun schon mehrmals ansatzweise geschrieben, u.a. in 
meiner mail vom 10.12.00. Ich halte die Fixierung auf die Abschaffung der 
"Wertvergesellschaftung" bzw. des Geldes für eine falsche abstrakte Negation, 
selbst für einen Fetischismus. Anders als Sklaverei und Leibeigenschaft 
beruht bürgerliche Gesellschaft und Warenproduktion auf persönlicher Freiheit 
und ist darum nicht wie die einfach abzuschaffen.

 Demokratie ist kein leeres neutrales Mittel, was
 man nutzen oder lassen kann, sondern notwendiger Teil der
 warenförmigen Vergesellschaftung. Daraus folgt, das diese
 "demokratisch" nicht aufhebbar ist. Das sieht die Freie Software
 intuitiv auch so: "Demokratie" spielt dort so gut wie keine Rolle,
 denn sie hat andere Vermittlungsmechanismen gefunden, die
 angemessener sind.

Weil es in der FS nicht nötig ist, daraus folgt wie gesagt nicht, dass 
Gesellschaft insgesamt so laufen kann. Demokratie ist widersprüchlich in 
ihren Prämissen und Wirkungen, radikalisiert ist sie sozialistisch, gegen 
kapitalistische Herrschaft gerichtet, weshalb die herrschende Klasse sie in 
engen Grenzen zu halten bestrebt ist. 

 > Weil sonst prozessieren die
 > Widersprüche ggf. in Formen, die noch wesentlich unangenehmer,
 > herschafts- und auch gewaltförmiger sind.
 
 Das tun sie schon. Dein Hororszenario ist kein Resultat von Staats-
 und Herrschaftslosigkeit, sondern Ergebnis von Staat und Herrschaft.
 Und das kannst Du Dir in RL heute angucken.
 
Sicher gibt es viele Beispiele, wo das Fehlen eines funktionierenden Staates 
unter gegebenen Verhältnissen zu Horrorszenarien gegenwärtig schon führt. Mit 
funktionierendem Rechtsstaat ist der Horror um >95 % minimierbar (rein 
subjektiv bewertet von mir), und die Bedingungen sind dann angenehmer für 
fast alle Beteiligten für Überwindung von Klassenherrschaft strategisch 
besser. 

 Doch, das Problem besteht darin, dass Du Dich nicht von der
 Warenproduktion im Kopf lösen kannst. Wenn nichtwarenförmige
 Alternativen Dir zu schlicht erscheinen, dann denk doch daran mit,
 diese Schlichtheit zu beseitigen. Mach es überzeugender. Jedes Neue
 ist doch notwendig unklar, schlicht, grob - sonst wäre es kein
 Neues. Wie denkst Du, ist die Quantenphysik entstanden - plopp, und
 da war sie in voller Detailliertheit und Größe?
 
Ich habe wie gesagt meine Vorstellungen halbwegs erläutert und sehe hier 
wenig Notwendigkeit, das weiter auszuführen. Dazu laufen dann anderswo die 
qualifizierteren Debatten über sozialistische Programmatik und Strategie, ist 
ja hier auch nicht der Anspruch. Ich hatte auf Stefan Mertens Kritik daran 
reagiert, dass ich auf absehbare Zeit materielle Anreize und Warenproduktion 
für unverzichtbar halte. Die Kritik, die ich bisher gehört habe, bestand im 
Prinzip in der Aussage, ohne Kapitalismus und Warenproduktion gäbe es 
überhaupt kein Problem der Koordination einer differenzierten 
gesellschaftlichen Arbeitsteilung, oder es ließe sich im Einzelnen über 
argumentative Aushandlung lösen. Ich habe versucht zu begründen, wieso mir 
das unrealistisch erscheint. Ich bekomme zu hören, das Probem wär nur, ich 
hätte mich nicht von der Warenproduktion geistig gelöst, also faktisch: ich 
würde deshalb falsch fragen. Oder ich solle doch selber bessere Antworten 
suchen, wenn mir die geäußerten nicht reichen. Ich meine dagegen: Fragen 
können nicht falsch sein. Und wer behauptet, er habe eine Alternative, muss 
sich schon die Fragen gefallen lassen und selber versuchen, darauf bessere 
Antworten zu finden.

Beste Grüße

Ralf Krämer
Fresienstr. 26
44289 Dortmund
Tel. 0231-3953843
Fax 0231-3953844

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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