[ox] Auszuege aus den Kommunistischen Streitpunkten
- From: Stefan Merten <smerten oekonux.de>
- Date: Tue, 16 Jan 2001 00:57:59 +0100
Hi!
Wenn ich auch wegen der Konferenz schon seit einem Monat nicht mehr
dazu komme, die Liste zu lesen - geschweige denn zu antworten - muß
ich wenigstens mal ein paar Stückchen hierher posten, die mir vor
einiger Zeit aufgefallen sind. Das erste ist vielleicht nicht ganz so
spannend. Und laßt euch nicht vom Titel des Magazins schrecken ;-) .
Mit Freien Grüßen
Stefan
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Von Werner Imhof stammt "Skizzen eines emanzipatorischen Kommunismus"
- im Web unter `http://hometown.aol.com/streitpkte/ks0502.html'.
Daraus fand ich folgende Ausschnitte besonders interessant:
Was im Kapitalismus-Bild der sozialistischen bzw. kommunistischen
Bewegung weitestgehend unter-, wenn nicht gänzlich unbelichtet war,
ist der zwiespältige Charakter des Privateigentums und die
"eigentümliche" Form, die die gesellschaftliche Arbeit unter seiner
Herrschaft annimmt. Privateigentum an Produktionsmitteln ist nämlich
nicht nur Verfügungsgewalt über sie (bzw. der juristische Ausdruck
davon), Herrschaft über Sachen, sondern immer zugleich ihr
Gegenteil: Beherrschung durch Sachen, Beherrschung der
Privateigentümer (seien sie Privatkapitalisten, Aktiengesellschaften
oder Belegschaften "selbstverwalteter" Betriebe) durch ihre
Produkte. Denn das Privateigentum an Produktionsmitteln trennt nicht
nur Eigentümer von Nichteigentümern, sondern auch - und wichtiger
noch - die Privateigentümer bzw. -produzenten voneinander; es ist
gerade Ausdruck ihrer Getrenntheit. Privateigentum an
Produktionsmitteln heißt nichts anderes, als daß gesellschaftliche
Arbeit unter vordergründig "unabhängigen" Teilproduzenten aufgeteilt
ist, die tatsächlich voneinander abhängig sind. Dies ist die
wesentliche Bestimmung des Privateigentums als einem sozialen
Verhältnis und nicht die Bestimmung durch sein Gegenteil, das
Nicht-Eigentum.
...
Ich halte nichts davon, über das pragmatische Arrangement der
Lohnabhängigen mit den bestehenden Eigentums- oder
Herrschaftsverhältnissen die Nase zu rümpfen; am allerwenigsten
dann, wenn die Nase Leuten gehört, die die kapitalistische
Produktionsweise nur moralisch verurteilen oder abstrakt negieren,
aber nicht angeben können, wie die gesellschaftliche Reproduktion
jenseits von Staat und Markt praktisch zu regeln wäre. Die
Bourgeoisie beherrscht die Gesellschaft durch ihre unbestrittene
Hegemonie, die sie zum einen ihrer ungebrochenen Fähigkeit verdankt,
die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit zu entwickeln, und
dem Zugeständnis, die Lohnabhängigen daran teilhaben zu lassen,
statt sie allein zur Steigerung der Mehrarbeit auszunutzen, zum
andern der scheinbaren Naturgegebenheit von Markt und Geld und damit
auch des Kapitals. Und diese Hegemonie wird nur zu erschüttern sein,
wenn ihre beiden Säulen morsch werden. Was die erste angeht, so hat
die Bourgeoisie bereits selbst begonnen, Hand an sie zu legen, und
zumindest ihre glänzende Oberfläche beschädigt. Aber dies allein
kann bei den Lohnabhängigen kein progressives Aneignungsinteresse
wecken (eher ein reaktionäres Ausschließungsinteresse gegenüber
Ausländern, Arbeitslosen, Kranken und Alten). Das kann nur
entstehen, wenn sie erkennen, was sie selbst tatsächlich "anders und
besser machen" könnten als die Ritter der "Marktwirtschaft", nämlich
die gesellschaftliche Arbeit auch gesellschaftlich zu organisieren,
indem sie die Markt- und Geldbeziehungen zwischen den allseits
abhängigen Teilproduzenten durch direkte und selbstbewußte
kooperative Beziehungen ersetzten und so das Privateigentum an den
Produktionsmitteln vollständig aufhöben. Was die Kapitalisten zur
Klasse vereint, ist die Aufrechterhaltung dessen, was sie
voneinander und von den Lohnabhängigen trennt, des Privateigentums.
Die Lohnabhängigen können sich überhaupt nur zur Klasse vereinigen
durch doppelte Negation des trennenden Privateigentums, durch das
Interesse, sich nicht nur der Produktionsmittel zu bemächtigen,
sondern des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses in seiner
Totalität (und das heißt notwendig: auch im internationalen
Maßstab).
An dieser Stelle wird sich wahrscheinlich manche/r zurücklehnen und
einwenden: "Alles schön und gut. Aber das wird Utopie bleiben. Der
Waren- und Geldfetisch wird die Menschen immer beherrschen. Die
Geschichte hat bewiesen, daß der Marxismus ihm nichts anhaben
konnte. Und schau dir doch die Leute an - ein Volk von Lottospielern
und Egoisten, die gar nicht fähig sind, ein Interesse an ihrer
gesellschaftlichen Arbeit zu entwickeln..." Ich halte das für eine
Ausrede, für einen Versuch, die eigene gedankliche Bequemlichkeit
oder Unfähigkeit dadurch zu verbergen, daß man sie anderen in die
Schuhe schiebt. Wenn es möglich ist (und es ist möglich), die
gesellschaftliche Arbeit gegen den Strich ihrer widerborstigen
Erscheinungsformen der konkreten Erfahrung zugänglich zu machen,
dann muß es auch getan werden, selbst wenn es zunächst als
Sisyphusarbeit erscheint. Und ich meine, es gibt gute Gründe
anzunehmen, daß sie es nicht sein wird. Einige davon liegen in der
Geschichte der bisherigen sozialistischen bzw. kommunistischen
Bewegung selbst.
...
Das "moderne sozialistische Bewußtsein" kann gerade nicht, wie
Kautsky meinte, dadurch entstehen, daß die Resultate "tiefer
wissenschaftlicher Einsicht", also des abstrakten Denkens, "von
außen" in die Köpfe der Lohnabhängigen "hineingetragen" werden und
ihnen Bewußtsein "verleihen". Es kann nur dadurch entstehen, daß das
abstrakte Denken selbst lernt, konkret zu werden und dem vorhandenen
(oder doch jedermann zugänglichen) Wissen, der vorhandenen Erfahrung
zur Einsicht in die konkrete gesellschaftliche Praxis zu verhelfen,
in die gegebene, die die Menschen beherrscht, wie in die mögliche
künftige, die die Menschen beherrschen. Der Durchgang durch die
Marxsche Kritik der politischen Ökonomie und ihre Entdeckungen ist
vorläufig noch der einzige Weg, das dazu notwendige methodische
Rüstzeug zu erwerben. Und dieser Durchgang muß heute als Nadelöhr
erscheinen. Aber je mehr und besser es gelingt, das Rüstzeug
anzuwenden, desto leichter sollte es fallen, den ideologischen
Schleier, den die kapitalistische Produktionsweise über sich selbst
legt, zu zerreißen, die herrschenden "Gedankenformen" als
Abstraktionen der mit sich selbst entzweiten gesellschaftlichen
Arbeit zu entmystifizieren und diese selbst auf direktem Wege der
konkreten Anschauung zugänglich zu machen, in ihren absurden
Gegensätzen, in die sie durch das Privateigentum gezwängt ist,
ebenso wie in ihrem stofflich-technischen Zusammenhang und den
Beziehungen der konsumierenden Produzenten, die es obsolet machen.
(Das jedenfalls ist meine Überzeugung, die plausibel zu machen ich
noch versuchen werde.) Übermächtig bleiben die Fetischgestalten der
gesellschaftlichen Arbeit nur für das abstrakte Denken, das meist
noch nicht einmal ihre theoretische Erklärung nachvollziehen kann.
Zu "entzaubern" sind sie allein dadurch, daß sie mit der konkreten,
unverhüllten gesellschaftlichen Arbeit selbst konfrontiert werden.
Die kapitalistische Produktionsweise ist wie ein absurdes Theater,
dessen Akteure meinen, sie spielten ein naturalistisches Stück.
Wissenschaftlicher Sozialismus (ohne Anführungszeichen) kann nichts
anderes sein als die Methode, den Akteuren ihre wirkliche Rolle
bewußt zu machen, eine Methode, die in Marx' "Thesen über Feuerbach"
ihren konzentriertesten Ausdruck gefunden hat und die er schon in
den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" formulierte: "Die Reform des
Bewußtseins besteht nur darin, daß man die Welt ihr Bewußtsein
innewerden läßt, daß man sie aus dem Traum über sich selbst
aufweckt, daß man ihre eignen Aktionen ihr erklärt. Unser ganzer
Zweck kann in nichts anderem bestehen... Es wird sich dann zeigen,
daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie
nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen..."
Die Geschichte ist bisher anders verlaufen. Der "offizielle" oder
"parteiamtliche" Marxismus nach Marx hat gerade diesen methodischen
Kern seines Denkens, die materialistische Dialektik, von Grund auf
mißverstanden, verkannt, verdrängt und begraben und damit sein
eigenes Schicksal besiegelt. Diese Entwicklung kann nicht allein,
auch nicht primär als subjektives Versagen der Marx-"Epigonen"
erklärt werden. Sie muß Gründe haben, die in der Entwicklung der
gesellschaftlichen Praxis, der kapitalistischen Produktionsweise
selbst liegen und erklären, warum sie sich so hartnäckig "gegen ihr
Verständnis sträubt" (Engels) - was im Umkehrschluß bedeutet, daß
dies Verständnis massenhaft nur möglich ist, wenn die
kapitalistische Produktionsweise selbst dazu drängt und ihre
ideologische Macht selbst untergräbt. Darauf komme ich noch zurück.
Zunächst noch einige Anmerkungen zur subjektiven Geschichte des
sozialistischen und kommunistischen Denkens, die zu verstehen nötig
bleibt, wenn man nicht in seine verhängnisvollen Bahnen zurückfallen
will.
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Von Ulrich Weiß stammt "Marx und der mögliche Sozialismus". Findet ihr
unter `http://hometown.aol.com/streitpkte/ks0511.html'. Daraus eine
längere Passage:
Der erste springende Punkt - Sozialismus wird ökonomisch möglich
Wann können nun nach Marx die Produktionsarbeiten ,,den Schein bloß
äußrer Naturnotwendigkeit abgestreift erhalten und als Zwecke, die
das Individuum selbst erst setzt, gesetzt werden"? Wann muß die
Arbeit nicht mehr als ,,Lohnarbeit ... als äußre Zwangsarbeit ...
und ihr gegenüber die Nichtarbeit als ,Freiheit und Glück`"
erscheinen? Marx' Antwort: ,,Die Arbeit der materiellen Produktion
kann diesen Charakter nur erhalten, dadurch, daß 1. ihr
gesellschaftlicher Charakter gesetzt ist, 2. daß sie
wissenschaftlichen Charakters, zugleich allgemeine Arbeit ist, nicht
Anstrengung des Menschen als bestimmt dressierter Naturkraft,
sondern als Subjekt, das in dem Produktionsprozeß nicht in bloß
natürlicher, naturwüchsiger Form, sondern als alle Naturkräfte
regelnde Tätigkeit erscheint." 27 Bleiben wir bei der zweiten
Bedingung. Unter welchen materiellen Voraussetzungen kann der
Produzent selbst Subjekt werden, muß von der Produktion selbst keine
Spaltung der Gesellschaft mehr ausgehen, kann also massenhaft der
bürgerliche Standpunkt verlassen werden? ,,In dem Maße", so eine
Antwort, ,,wie die große Industrie sich entwickelt, wird die
Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der
Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der
Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und
... [das ist abhängig] vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und
dem Fortschritt der Technologie."28 Erst eine bestimmte
Entwicklungsstufe der Technologie ermöglicht eine grundsätzlich
andere des Menschen im bzw. zum Fertigungsprozeß als die der
fordistisch-tayloristischen Wirtschaft, nämlich die, in der sich der
Mensch verhält ,,als Wächter und Regulator zum Produktionsprozeß
selbst ... Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein
Hauptagent zu sein." 29 Damit gewinnt Arbeit nicht nur einen
wissenschaftlichen Charakter. Es wird zugleich der über die
Lohnarbeit laufende Verwertung von Wert die Basis entzogen. Es ist
dann ,,weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst
verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung
seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur
und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als
Gesellschaftskörper - in einem Wort die Entwicklung des
gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der
Produktion und des Reichtums erscheint." 30 Ab diesem ,,bestimmten
Grad der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte und daher des
Reichtums ... erscheint die weitere Entwicklung [auf
kapitalistischer Grundlage - UW] als Verfall und die neue
Entwicklung beginnt von einer neuen Basis." 31 Die Ökonomie kann
(nicht muß!) von diesem Zeitpunkt an aufhören, eine politische zu
sein, weil materielle Produktion, damit sie überhaupt auf hohem
Niveau stattfinde, nicht mehr der Sondierung der ,,Gesellschaft in
zwei Teile" 32, nicht mehr der Klassenspaltung, nicht mehr des
Staates bedarf. Von dem Zeitpunkt an können auch
Emanzipationsbewegungen wie etwa die der Frauen eine andere
Perspektive gewinnen als etwa die, unter der Losung der
Gleichstellung zur kapitalistischen Modernisierung beizutragen,
Frauen als Lohnarbeiterinnen, Unternehmerinnen oder Politikerinnen
massenhaft in die Reproduktion von patriarchalen Verhältnissen
einzubinden. Emanzipationsbewegungen können jetzt erstmalig einen
sozialistischen, jegliche Herrschaftsstrukturen aufhebenden
Charakter gewinnen.
Ab den 60er Jahren gab es im Osten wie im Westen parallel zu den
allerersten Übergängen zur automatisierten Fertigung kurzzeitig eine
faßbarere Ahnung der Perspektive vom ,,allseitig, schöpferisch,
spielerisch Arbeitenden" 33. Diese waren durchaus kompatibel mit den
frühen Marxschen Aussagen über eine kommunistische Zukunft34, nicht
aber mit dem ML und nicht mit den Grundstrukturen des Ostens. Es
wurde schnell klar, daß soziale Bewegungen, die der beginnenden
wissenschaftlich-technischen Revolution einen
zivilisationsverträglichen sozialistischen Charakter hätten geben
können, nur in der Rebellion gegen jegliche
hierarchisch-patriarchale Gesellschaftsstruktur, also gegen die
bürgerliche Spaltung in Herrschende und Beherrschte, entstehen
konnten. Im Westen machte eine solche klassenungebundene
emanzipatorische Bewegung neuer Art 1967/68 Furore. Mit dem Effekt
des Ausschöpfens noch vorhandener ökonomisch-zivilisatorischer
Potenzen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wurde sie
in diese integriert. Diese Entwicklung hat ihren
zivilisationsfördernden Höhepunkt längst überschritten und ihren
vorläufigen Tiefpunkt mit der rot-grünen Bundesregierung erreicht.
35 Im Osten wurde emanzipatorische Bewegung der 1960er Jahre und ihr
theoretischer Reflex ohne eine temporär positive Wirkung wie im
Westen gestoppt. Die Grenze der real-,,sozialistischen"
Möglichkeiten war damit angezeigt. Der Osten ging schließlich bis
1990 daran kaputt, woran der Westen zunehmend krankt: an der
strukturell bedingten Unfähigkeit, eben jenem ganz ,,bestimmten Grad
der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte", durch welche ,,die
Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums ... der große
Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums" 36 werden kann, den
erforderlichen zivilisationsverträglichen Raum zu verschaffen. Die
Organisations- und Herrschaftsfähigkeiten einer über der
Gesellschaft erhabenen Klasse einerseits sowie die Fähigkeiten und
der Willen der Subalternen zur Unterwerfung unter lebenslange
Lohnarbeit andererseits sind nunmehr historisch erstmalig keine
Bedingungen mehr für Reichtum und Zivilisation. Das
lutherisch/real-,,sozialistische" Arbeitsethos gerät damit ins
Wanken. In der postfordistischen Produktion formieren sich nun
gerade solche Elemente, die nicht nur eine abstrakt-theoretische
Beschreibung einer solchen Art von Produktion denkbar machen, die
nicht mehr von Kapital und Lohnarbeit vorangetriebenen wird.
Kapitalistisch betrieben erscheinen die neuen Fertigungsweisen
allerdings für die meisten Menschen als Katastrophe. Diese ist bei
Beibehaltung des kapitalistischen Rahmens auch tatsächlich von
keinerlei reformerischen Reparaturversuchen aufzuhalten, egal ob
sich diese in schwarzen, rötlichen oder grünen Farben präsentieren.
Auf Marxsche Weise sozialistisch betrachtet und betrieben, könnten
diese neuen Elemente jedoch als die endlich entstehenden
Voraussetzungen einer reichen Entwicklung der Individuen auf der
Basis gemeinschaftlich beherrschter moderner Produktivkräfte
begriffen und genutzt werden. Von der Stellung des produzierenden
und konsumierenden Individuums aus gesehen ist dies genau der Punkt,
da die Aufhebung des Kapitalismus durch den Sozialismus-Kommunismus
ökonomisch möglich wird.
Diese Möglichkeit kann allerdings nur wirklich werden, wenn sich
verbindende Menschen einen Weg finden, um die von Marx genannte
erste Bedingung dafür zu schaffen, daß Arbeit nicht mehr als
,,Lohnarbeit ... als äußre Zwangsarbeit erscheint". Es muß ,,ihr
gesellschaftlicher Charakter gesetzt" werden37, und zwar nicht durch
das Kapital, sondern durch frei assoziierte Individuen, die selbst
bewußt die Zwecke der Produktion ,,als Selbstverwirklichung,
Vergegenständlichung des Subjekts" bestimmen. 38 Die derzeit
scheinbar allmächtige kapitalistische Form des Setzens des
gesellschaftlichen Charakters von Produktion ist es, was allerdings
jeden Jubel über die o. g. Möglichkeiten einer mit der
Automatisierung verbundenen Persönlichkeitsentfaltung erstickt und
die menschlich-produktiven Möglichkeiten von Wissenschaft und
Technik selbst beeinträchtigt. Mögen sich auch Hierarchien
abflachen, möge enorme geistige Beweglichkeit gefordert sein und
sich der technologische und betrieblich-soziale
Verantwortungsbereich unmittelbarer Produzenten stark erweitern -
über allem stehen weiterhin äußere, vom Individuum nicht beherrschte
Zwecke: Die Verwertung von Wert, damit der unvermeidliche Zwang zur
galoppierenden Reduzierung lebendiger, auch hochqualifizierter
Arbeit, was nicht zu genießbarer Freizeit, sondern zu
niederdrückender erzwungener Arbeitslosigkeit führt. Die
Kapitalisierung durchdringt buchstäblich alle gesellschaftlichen
Bereiche. Bis hinein in die intimsten Bereiche, etwa durch Auflösung
der traditionellen Familienstrukturen wird alles der
Kapitalvermehrung unterworfen. All dies macht das schönste
Lean-Production-Team mit seinen abstrakt gegebenen Möglichkeiten zur
Selbstentfaltung seiner Mitglieder innerhalb und außerhalb der
Arbeit in Wirklichkeit zu einer Ansammlung konkurrierender, sich
selbst kontrollierender und damit doch weiterhin von äußerem Zwang
getriebener Lohnarbeiter. Das treibt Produktion zur Vernichtung
natürlicher Existenzvoraussetzungen und zum Zerstören von
Zivilisation. Wie gesagt, auch die östliche Variante des Setzens des
gesellschaftlichen Charakters von Arbeit, also die Zwecksetzung
durch den ,,sozialistischen" Staat, war eine Variante der
bürgerlichen Ökonomie mit ,,sozialistischen" Ruhmestaten der
,,Nierreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung
des Selbstzwecks unter einen ganz äußeren Zweck"39. An den ,,Straßen
der Besten" und an Wandzeitungen (die heute in den Betrieben wieder
Konjunktur haben) haben sich Helden wie wir gefeiert. Wenn also auch
nicht auf real-,,sozialistischem" Wege, wie kann dann der
unmittelbare Produzent zum gesellschaftlichen Individuum werden,
selbst zwecksetzend der ,,große Grundpfeiler der Produktion und des
Reichtums"? Es gibt immer wieder interessante Versuche alternativer
Ökonomien, sich weitgehend selbst durch beschränkt-arbeitsteiliges
Produzieren zu versorgen. Das zeigt den Drang einer zunehmenden
Minderheit von Menschen, sich den entfremdeten kapitalistischen
Verhältnissen zu entziehen. Es geht jedoch nicht um isolierte
Kleingruppen von asketisch-gesellschaftlichen Individuen etwa in der
ueckermärkischen Einsamkeit, es geht nicht sozusagen um die
Reproduktion einer allerdings PC-bestückten urgesellschaftlichen
Horde. Es geht um Zivilisationsgewinn auch unter Nutzung gerade der
veränderten Stellung unmittelbarer Produzenten in den Kernbereichen
von Lean-Production. So sehr sie als Ausdruck der Suche nach anderen
Lebens- und Arbeitsweisen zu begrüßen sind, eine isolierte
Entwicklung von Alternativprojekten ist noch nicht die Lösung. Deren
Vernetzung verweist schon eher darauf, wenn sie unter anderem den
High-tech-Bereich und die Erfüllung allgemeiner, bisher meist
staatlicher Aufgaben einbeziehen können, wenn also assoziierte
Individuen die Bedingungen ihrer materiellen Existenz auf hohem
Niveau unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen.
Der zweite Punkt - die Gesellschaft kann den Staat in sich
zurücknehmen
Marx benennt noch eine weitere Voraussetzung dafür, damit eine
Gesellschaft (diese dann konstituiert durch frei-assoziierte
Individuen) sich ihre dann nicht mehr entfremdete Herrschaft über
die materielle Produktion ,,zurück"-erobern kann. Der Logik der
kapitalistischen Entwicklung folgend sagt Marx sozusagen die heutige
Privatisierung öffentlicher Einrichtungen (Verkehrs- und anderer
Kommunikationsmittel, Schulbildung, Wissenschaft, Gesundheitswesen,
polizeiliche Aufgaben, Kultureinrichtungen, die Verwertung jeglichen
öffentlichen Raumes usw.) voraus. Er verweist zum Beispiel auf den
Drang des Kapitals, sich auch ,,die Voraussetzungen der Zirkulation"
zu assimilieren, also solche einst allgemeinen Aufgaben ,,in
kapitalisierende Produktion oder Produktion von Kapital" zu
verwandeln. Die Sicherung von gesellschaftlichen Bedingungen der
kapitalistischen Produktion waren zuvor Staatsaufgaben. Sie konnten
vom Einzelunternehmen oder vom assoziierten Kapital nicht erfüllt
werden, weil dies keine Möglichkeit der Kapitalverwertung bot. Durch
die fordistische Form der Vergesellschaftung in West und Ost wurde
der Bereich dieser Staatsaufgaben im 20. Jahrhundert extrem
ausgeweitet. Diese Funktionen werden nun gegenwärtig genau in dem
Maße, in dem das Produktivkraftniveau auch hier eine angemessene
Verwertung ermöglicht in einer großen Welle der Privatisierung durch
das Kapital selbst übernommen. Dies nennt Marx ,,eine
propagandistische (zivilisierende) Tendenz" des Kapitals. 40 Mit
dieser sich in den heutigen Metropolen vollziehenden Entstaatlichung
ist nach Marx ,,die höchste Entwicklung des Kapitals" erreicht. Die
,,allgemeinen Bedingungen des gesellschaftlichen
Produktionsprozesses" werden dann nicht mehr ,,aus dem Abzug der
gesellschaftlichen Revenu hergestellt ... sondern aus dem Kapital
als Kapital. Es zeigt dies den Grad einerseits, worin das Kapital
sich alle Bedingungen der gesellschaftlichen Produktion
unterworfen", womit ,,alle Bedürfnisse in der Form des Austauschs
befriedigt werden; auch die als gesellschaftlich gesetzten
Bedürfnisse des Individuums, d.h. die, die es nicht als einzelnes
Individuum in der Gesellschaft, sondern gemeinschaftlich mit andren
konsumiert." 41 Die ganze Gesellschaft, jeder Lebensbereich, wird
zur Geißel des Kapitals. Der Staat verliert die Fähigkeit, den
Individuen in allen Wechselfällen von Konjunktur und Krise
wenigstens ein Mindestmaß an Stabilität, Sicherheit, Kultur, Bildung
usw. zu sichern.
Was kann an diesen Prozessen, die von Regierungen unter Reagan,
Thatcher, Blair und Schröder durchgepeitscht werden, zivilisierend
oder gar sozialistisch sein? Nichts. Im Gegenteil. Die Gesellschaft
wird in die nackte Barbarei getrieben. Dies ist unvermeidlich, wenn
die Tendenz zum schlanken Staat sich unter kapitalistischen
Bedingungen durchsetzt. Wer nur über eine innerkapitalistische
Brille verfügt und wer sich nicht wie gegenwärtig alle führenden
Politiker hinsichtlich des angeblichen Primats des Politischen beim
Geltendmachen menschlicher Bedürfnisse hemmungslos in die Tasche
lügt, der kann nur in ausweglose Verzweiflung oder Zynismus
verfallen. In kommunistischer Perspektive jedoch markiert gerade die
kapitalisierende Übernahme von bisher notwendig dem Staat
zufallenden Aufgaben denjenigen Punkt des Kapitalismus, da mit ihrer
,,höchsten Entwicklung" die alte Formation selbst die Möglichkeiten
ihrer Aufhebung produziert. In dieser Sicht sind die
Entstaatlichungen Indizien dafür, daß emanzipatorische soziale
Bewegungen nunmehr die kapitalistische Form der Produktion
tatsächlich nachhaltig aufheben können. Wieso? Weil sie nicht wieder
notwendig in antiemanzipatorische Entfremdung, in bürgerliche
Herrschaftsstrukturen, in die Errichtung neuer Staatlichkeit wie die
der sogenannten Diktatur des Proletariats zurückfallen müssen. Warum
existiert dieser Zwang nicht mehr, der unter anderem dem Osten die
sozialistische Perspektive verstellte? Wenn die
zivilisationssichernden allgemeinen Aufgaben tatsächlich dem
(bürgerlichen) Staat entrissen und von Einzelkapitalen selbst
erfüllt werden oder werden können (was auf kapitalistisch die
Verrottung der nicht zahlungsfähigen Träger entsprechender Nachfrage
z. B. nach Bildung und Medizin einschließt), dann existieren
erstmalig in der Geschichte auch die materiellen Voraussetzungen
dafür, daß assoziierte Individuen bisherige Staatsaufgaben direkt
unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen können. Dann wird für
die Bewahrung von Gesellschaftlichkeit der Staat, der Ausdruck der
bisherigen Spaltung der Gesellschaft in antagonistische Teile,
überhaupt funktionslos. Der Staat, die ,,übernatürliche Fehlgeburt
der Gesellschaft"42, einst in den Klassengesellschaften eine
Bedingung zivilisatorischen Fortschritts, wird aufhebbar. Dann und
erst dann ist die Aufhebung der sich im Kapital wie im Staat
ausdrückenden Entfremdung, die Überwindung der knechtenden
Arbeitsteilung und des (kapitalistischen) Privateigentums, dann ist
also Sozialismus-Kommunismus möglich. Das ist dann aber auch
dringend geboten. Im Gegensatz zur Ausgangssituation des
Real-,,Sozialismus" gibt es nun auch bezüglich bisheriger
Staatsfunktionen die Möglichkeit, daß eine revolutionäre Praxis,
also die Veränderung der Verhältnisse und die Selbstveränderung der
Menschen einen sozialistischen Charakter annehmen kann. Nicht nur in
der Produktion, auch hinsichtlich allgemeiner Aufgaben müßte nach
einer gesellschaftlichen Umwälzung heute nicht wieder die Spaltung
der Gesellschaft in Herrschend und Beherrschte, nicht wieder die
Rekonstruktion des Staates erfolgen. Die kapitalistische
Wirklichkeit wächst heute auch hinsichtlich seiner Tendenzen zum
schlanken Staat sozusagen den Marxschen Aussagen über die
materiellen Voraussetzungen einer sozialistisch-kommunistischen
Umwälzung entgegen.
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Zum Schluß nochmal eine längere Passage von Werner Imhof aus "Das
Ferne liegt so nah... - Über kommunistische Produktion als praktische
Möglichkeit oder mögliche Praxis"
(`http://members.aol.com/Streitpunkte/ks0607.html'):
Die "Internet-Revolution"
Robert Schlosser hat die kommunistische Produktionsweise auch als
"kommunikativen Prozeß der Selbstregulierung" umschrieben. Die
technischen Mittel dazu werden derzeit perfektioniert durch die
rasante Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik, vor
allem des Internet. Die Kommerzialisierung des Internet ist dabei,
auch den "Kommerz" selbst, d.h. die kapitalistische
Produktionsweise, zu verändern. In welchem Umfang und mit welchen
Konsequenzen, das ist bisher noch kaum abzusehen. Der globale,
dezentrale und öffentliche Charakter des Internet macht es aber auf
jeden Fall zu einem Kommunikationsmedium, das auch für eine
unmittelbar gesellschaftliche Produktionsweise als "kommunikativem
Prozeß der Selbstregulierung" geeignet wäre. Schon die kommerzielle
Nutzung des Internet läßt ahnen, welche Möglichkeiten es bieten
könnte.
Ein Beispiel ist die Logistik , die Organisation und Kontrolle von
Güterströmen. Auch bisher schon ermöglichten Bar- oder Strichcodes
(die z.T. bereits durch zweidimensionale Codes oder durch Chips
ersetzt werden) die Erfassung individuell identifizierbarer Güter
von der Produktion bis zur Ladenkasse. Das Internet eröffnet hier
neue Dimensionen.
"So richtig interessant werden die Strichcodes ... erst, wenn man
sie in unternehmensweite Prozesse, globale Handelsstrukturen und
Warenströme integriert. Mercedes-Benz verschafft sich den
aktuellen Überblick seiner über die Weltmeere schippernden
Warenwerte, der UPS-Kunde kann online übers Internet den aktuellen
Standort seiner Paketsendung rund um den Kontinent nachvollziehen,
und Airbus Industries sorgen mit Datenfunk- und Barcodegestützter
Lagerhaltung dafür, daß die Airbusflieger möglichst lange in der
Luft und nicht unnötig am Boden bleiben. Auch unter dem
Blickwinkel der Produkthaftung kann sich die Investition in
Barcode-Systeme lohnen. Die Wege von Gütern - man denke an die
komplexe Nahrungsmittelkette - lassen sich besser
nachvollziehen... Die Wirksamkeit der Rückrufaktionen etwa der
Automobilhersteller ruht ganz wesentlich auf der
Informationsquelle Barcode, die dort die Rückverfolgung
fehlerhafter Chargen bis tief in die weltweiten Zuliefer- und
Vertriebsnetze hinein ermöglicht." (FAZ vom 5.7.99)
Ein anderes Beispiel ist die "kundenindividuelle Massenfertigung",
die eine Entwicklung fortsetzt, welche gerade von der "Wertkritik"
ignoriert wird, die nur die "Diktatur des Tauschwerts über den
Gebrauchswert" (Kurz) sieht. Die kapitalistische Produktionsweise
ist ja tatsächlich eine "Selbstzweckbewegung", Produktion um der
Produktion willen, weil Produktion von Mehrwert. Doch während sie,
wo immer möglich, die Bindung des Tauschwerts an den Gebrauchswert
der Produkte zu überlisten oder zu vernachlässigen sucht (durch
eingebauten Verschleiß, beschleunigte Produktinnovation, schlichten
Schund oder einkalkulierte Gebrauchsrisiken), kann sie doch nicht
verhindern, daß gleichzeitig die Bedeutung des Gebrauchswerts
(Produktqualität, Service, Kundenberatung und -betreuung) für die
Realisierung des Tauschwerts und damit auch des Mehrwerts zunimmt,
bedingt durch die Entwicklung der Technik, des gesellschaftlichen
Bewußtseins und - der Regreßrisiken. Durch das Internet wird dieser
Trend noch verstärkt.
"Die Beziehungen zwischen Kunden und Anbietern werden sich ... im
kommenden Jahrhundert grundlegend ändern... Was produziert wird,
entscheidet in Zukunft unmittelbar der Kunde. Konsumenten
bestimmen zahlreiche Merkmale ihrer Produkte selbst. Die Produkte
werden entsprechend den Kundenwünschen hergestellt, wie es zuvor
nur im Handwerk möglich war... Die Massenproduktion für anonyme
Käufergruppen wird so zu einer für den einzelnen Kunden
maßgeschneiderten Massenfertigung. Möglich wird dies durch den
Einsatz moderner Informationstechnologien in Vertrieb, Entwicklung
und Herstellung. Der Kunde ... gestaltet etwa per Internet sein
zukünftiges Auto: Verschiedene Modellvarianten und individuelle
Ausführungen kann er 'durchklicken', sich das selbstgestaltete
Auto dreidimensional anschauen und per Internet bestellen...
Individuell konfigurierte Waschmaschinen sowie maßgenaue Armlängen
maschinell hergestellter Strickpullover sind weitere Beispiele..."
(FAZ vom 26.5.98)
"BMW-Käufer können sich ihr Traumauto bereits im Internet
zusammenstellen und dabei aus einer Million Gestaltungsoptionen
aussuchen. Bestellen müssen die Käufer aber noch beim Händler -
aus Rücksicht auf deren Gewinnmargen... Doch die
Internet-Anwendung beschränkt sich nicht auf den Verkauf: In
wenigen Jahren werden Autos erst nach einer Internet-Bestellung
gebaut - ohne Lagerkosten, ohne Unsicherheit über den
tatsächlichen Absatz und ohne teure Marktforschung. Diese
kundenindividuelle Massenproduktion steckt noch in den Anfängen,
aber alle Hersteller arbeiten in diese Richtung." (FAZ vom
12.11.99)
Man darf sich von der Euphorie über die "schöne neue Welt" des
"E-Commerce" natürlich nicht blenden lassen. Was sich hier ändert,
ist zunächst mal nur die Distributionsweise ; die Distributions
verhältnisse bleiben weiterhin bestimmt durch die bornierten
Produktionsverhältnisse. Und doch liegt in dieser Entwicklung ein
subversives Potential, das sich gegen die Produktionsverhältnisse
selbst richten (lassen) könnte. Die begriffliche Fassade des
"Marktes", die eine grundsätzlich unbestimmte und unbestimmbare
Nachfrage vorgaukelt, verliert hier ihren letzten Halt. Die
"kundenindividuelle Massenproduktion" ohne "Absatzunsicherheit" und
"Marktforschung" macht sichtbar, was technisch sowieso längst
möglich und im Bereich der Produktionsmittelindustrien (und der
Luxusgüterindustrien!) auch realisiert ist: daß die Produktion
unmittelbar den qualitativen und quantitativen Anforderungen des
gesellschaftlichen Bedarfs folgen könnte, auch im Bereich der
Konsumtionsmittel. Was hier die Produktion hemmt, stört und
krisenanfällig macht, ist nicht die "unberechenbare" und "launische"
Natur des "Marktes", sondern einzig und allein die Fesselung der
Nachfrage an die Zahlungsfähigkeit, also an die Warenform der
Arbeitskraft und an die Kapitalform der Produktions- und
Lebensmittel.
Das Beispiel der "kundenindividuellen Massenproduktion" zeigt auch,
daß sich die Bedeutung des Internet nicht in seiner Rolle als
technisches Medium kommunikativer und kommerzieller Beziehungen
erschöpft. Es verändert auch die Beziehungen selbst, nicht nur die
zwischen Produzenten und individuellen Konsumenten, sondern auch die
zwischen den Teilarbeiten in der Produktionssphäre selbst. Die
fortschreitende Integration der Teilarbeiten zwecks Optimierung des
Verwertungsprozesses bereitet dessen eigene Aufhebung vor, weil sie
das Privateigentum an den Produktionsmitteln immer absurder macht.
"In der Fabrik der Zukunft verschwinden die Grenzen zwischen
Zulieferern und Unternehmen. Die Extremform ist das virtuelle
Unternehmen, das sich abhängig vom einzelnen Auftrag aus mehreren
Unternehmen bildet und nach der Auftragserfüllung wieder zerfällt.
Die Lieferanten verfügen mittels Kommunikationstechnologien über
alle notwendigen Informationen eines Auftrags. Sie liefern ihre
Produkte zeitgenau an und werden so zu einem integrierten Teil der
Produktionsprozesse..." (FAZ vom 26.5.98)
Schließlich noch ein erstaunliches Beispiel dafür, wie das Internet
Initiativen freisetzen und beflügeln kann, die die Autorität des
Privateigentums und seine angebliche Unverzichtbarkeit und Effizienz
regelrecht blamieren:
"Es zählt zu den revolutionären Vorteilen des Internets, daß es
die Bildung von weltweiten virtuellen Gemeinschaften ermöglicht.
Jeder ist eingeladen, daran teilzunehmen und das Geschehen aktiv
mitzugestalten. Ein Beispiel ist die Verbreitung sogenannter
Open-Source-Software. Open Source bedeutet nicht nur freien Zugang
zum Quellcode zusammen mit dem Recht, daß jeder diesen verändern
kann, sondern auch die Pflicht, daß diese Veränderungen der
Gemeinschaft wieder zur Verfügung gestellt werden. Linux, jenes
erfolgreiche Open-Source-Betriebssystem, zeigt sehr deutlich, daß
eine solche virtuelle Internet-Gemeinschaft mit viel Spaß an der
Sache durchaus ernstzunehmennde Software entwickeln kann... Durch
das Internet und das Open-Source-Konzept wurde es möglich, daß
viele einzelne Entwickler im Rahmen einer virtuellen Gemeinschaft
in rasantem Tempo Software weiterentwickeln - unabhängig
voneinander und doch gemeinsam.
Das Open-Source-Konzept führt zunächst zum Chaos. Doch gerade
dadurch können Assoziation, Intuition und Kreativität ihre volle
Kraft entfalten. Wie aber kann aus diesem Sammelsurium von Ideen,
Vorschlägen und Änderungen ein Produkt reifen? Der Schlüssel zur
Beantwortung dieser Frage liegt im offenen Wettbewerb zwischen
diesen Ideen. Die virtuelle Gemeinschaft entscheidet über die
Akzeptanz und damit den Erfolg einer Idee. Die künstliche
Protektion von Irrtümern ist ausgeschlossen, das Beste setzt sich
auf evolutionäre Weise durch." (FAZ vom 24.8.99)
Selbst die FAZ mußte einräumen, daß Open-Source-Produkte
"proprietärer Software" deutlich überlegen sind...
Die Veränderungen der Arbeitsorganisation auf gesellschaftlicher
Ebene sind nicht zu trennen von den Veränderungen der betrieblichen
Arbeitsorganisation, die seit einem Jahrzehnt als Lean Management
und Lean Production auf dem Vormarsch sind. Auch Gruppenarbeit, KVP,
Qualitätsmanagement, Kundenorientierung, Just-in-time-Anlieferung
usw. enthalten progressive Momente, die über den bornierten Zweck
der Produktion hinausweisen, dem sie dienen sollen, die die
Abschottung der betrieblichen Arbeit von ihren gesellschaftlichen
Zusammenhängen aufbrechen und die den Produzenten bisher
unterdrückte Fähigkeiten und Kompetenzen abverlangen. Joachim
Bischoff von den SOST ist so weit gegangen, von einer "neuen
gesellschaftlichen Betriebsweise" zu sprechen. Ich halte das für
eine beschönigende Übertreibung. Einer, der es wissen muß, sieht das
ganz anders:
"Wenn heutzutage in Automobilunternehmen den inneren Marktkräften
mehr freier Lauf gelassen wird und Entscheidungsbefugnisse an
operative Einheiten abgegeben werden, dann geschieht das ... in
erster Linie (zu) dem Zweck, Gemeinkosten zu sparen und Abläufe zu
beschleunigen. Durch die Verschärfung des internen Konkurrenz- und
Erfolgsdrucks, durch kurzfristige Ergebniserwartungen und die
Politik der kurzen Berichtswege wird darüber hinaus versucht, die
operativen Einheiten wieder besser unter zentrale Kontrolle zu
bringen, den Zentralismus also wirkungsvoller zu gestalten. Diese
provokanten Thesen stammen von Roland Springer, dem Leiter der
Arbeitsorganisation und des Verbesserungsmanagements der
Daimler-Chrysler AG... Der neue Zentralismus ist nach Springers
Aussagen mit der Gewährung von größeren Handlungs- und
Entscheidungsspielräumen in operativen Einheiten durchaus
kompatibel, solange sich diese mit ihren Entscheidungen im
Korridor zentraler Erwartungen, beispielsweise den vorgegebenen
Kapitalrenditen, bewegen. Die heute in den Automobilunternehmen
praktizierte Dezentralisierung sei keine Alternative zum
Zentralismus, sondern eine Methode seiner Erneuerung, seiner
Modernisierung. Unmittelbar sichtbar werde das am Instrument der
Zielvereinbarung, das heute in allen Automobilunternehmen in
Deutschland eingesetzt werde." (FAZ vom 19.4.99)
Denn natürlich stehen alle Zielvereinbarungen unter dem Diktat der
Kapitalverwertung und des Konkurrenzkampfes. Aber die
fortschreitende und (wenn man denn sehen will) sichtbare
Vergesellschaftung der Arbeit bis hinein in die Betriebsabläufe
macht eben dieses verselbständigte Ziel mehr und mehr angreifbar,
weil widersinnig. Dazu reicht es allerdings nicht, das Kapital bloß
als Kapital zu bezeichnen und den Profit bloß als Profit. Das ist
ohnmächtiges Kapitulieren vor der Erscheinungsform. Dazu muß man
endlich wieder das beim Namen nennen und in Frage stellen, was das
Kapitalverhältnis erst konstituiert: das Privateigentum an
Produktionsmitteln, und imstande sein, die Möglichkeit unmittelbar
gesellschaftlicher
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