[ox] Re: Die Rolle der Politik
- From: "rhizom 00" <rhizom00 hotmail.com>
- Date: Sun, 03 Dec 2000 23:28:39 +0100
Lieber Franz und Oekonux-Listige,
Jede Idee des "Primats der Politik" setzt letztlich die Vorstellung von
den "Kommandohöhen der Volkswirtschaft" voraus. Nichtstaatliche Politik
ist quasi eine "Option auf den Staat".
Das "Muster" von "oben" verändern ein Widerspruch in sich. Denn
das "oben" gibt es nur weil es sich durch Akkumulation und Mehrprodukt
erhält. So kommen die Joschka Fischers zustande, aber auch die
Salvador Allendes. Beide Male ein tragischer Verlauf.
mir schwebt bei meinem Politikbegriff nicht eine Politik der Eroberung des
Staates a la Fischer vor, sondern eine Politik gegen den Kapitalismus und
damit notwendigerweise auch gegen den Staat als integralen Bestandteil des
Kapitalismus.
Politik im Sinn der emanzipatorischen und globalen Vernetzung unterdrueckter
Gruppen im Sinn einer Einheit in der Vielfalt.
Natuerlich Selbstorganisation von unten, da sind wir uns ganz einig. Mit dem
Begriff der politischen Selbstorganisation werden bei mir offene Türen
eingerennt.
Die von mir gegebene Definition von Politik ist eine allgemein-abstrakte,
natürlich hat Politik aber eine konkrete Bedeutung in jeder
Gesellschaftsformation. Und da schwebt mir eben Politik als
Selbstorganisationsform gegen den Kapitalismus und als
Selbstorganisationsform für ein danach vor. Dies ist aber zu unterscheiden
von staatlicher Politik im hier und jetzt. Beide Begriffe folgen aber der
allgemeinen Politikdefinition.
Staat bedeutet immer ein von oben und daher immer Fremdorganisation und
Minimierung der Selbstorganisation (siehe auch den 4. Abschnitt von
Selbstorganisation in der Informationsgesellschaft ueber "Demokratie und
Selbstorganisation" http://stud4.tuwien.ac.at/~e9426503). Wenn Demokratie
als umfassende und direkte Selbstbestimmung der Menschen verstanden wird,
also als ein Inbegriff von Selbstorganisation, so muss gesagt werden, dass
die kapitalistische Repraesentativdemokratie eigentlich undemokratisch und
nicht selbstorganisierend ist. Eine selbstorganisierende Gesellschaft
muesste also eine ohne jede staatliche Vermittlung der Politik sein.
Trotzdem Primat der Politik über die Ökonomie im doppelten Sinn: Einerseits
als emanzipatorische Strategie, da ich der Ansicht bin, daß alle
gegenökonomischen Versuche, den Kapitalismus zu transzendieren, als
ernstzunehmende emanzipatorische Projekte zum Scheitern verurteilt sind
(Tauschringe, selbstverwaltete Betriebe etc.). Und andererseits als Ziel,
denn Kapitalismus bedeutet Dominanz der Ökonomie über die
Entscheidungsfindung der Menschen (kapitalistische Politik). Wollen die
Menschen sich selbst bestimmen und ihrer selbst sein, so muß die ökonomische
und die politische Entfremdung aufgehoben werden und die selbstorganisierte
Entscheidungsfindung (Politik als Selbstorganisation) zu einem
Lebensmittelpunkt werden.
Ziel dürfte dann nicht die Eroberung des Staates sein, sondern seine
Aufhebung sowie auch die Aufhebung des Kapitalismus.
Um zu versuchen, diesen Politikbegriff zu praezisieren, ein kurzer
Ausschnitt aus dem umfassenden Aufsatz Fuchs/Hofkirchner - Die Dialektik der
Globalisierung in Technik, Oekonomie, Politik und Kultur (wird bald im Netz
veroeffentlicht). Wem das jetzt zu lang wird, der soll bitte hier einfach
zum Lesen aufhoeren.
Gruss,
C.
Politische Globalisierung bezeichnet nicht nur ueber den Nationalstaat
hinausgehende offizielle politische und militaerische Buendnisse
herrschender politischer und oekonomischer Fraktionen (z.B. G8, UNO,
Weltsicherheitsrat, NATO, Weltbank, IWF, OECD, WHO) mit dem Ziel,
oekonomische Interessen durchzusetzen, sondern meint insbesonders auch die
durch die soziale, kommunikative und technische Vernetzung gegebene
Moeglichkeit der gemeinsamen politischen Organisierung von raum-zeitlich
entfernten marginalisierten und unterdrueckten sozialen Gruppen.
Weltinnenpolitik ist nicht (blosses) Aggregat der staatlichen
Aussenpolitiken, sondern es betreten (darueber hinaus) neue politische
Akteure das Parkett der internationalen Beziehungen: die internationalen
Nichtregierungsorganisationen, die Speerspitzen der neuen sozialen
Bewegungen, in welchen sich die Zivilgesellschaft globalisiert. Koessler und
Melber definieren diese als ?ein Netzwerk von Organisationen und informellen
Zusammenhaengen, das geeignet ist, als Widerlager und Widerpart gegenueber
dem jeweiligen Staatsapparat aufzutreten" (Koessler/Melber 1993, S. 93).
Szusza Hegedus, langjaehrige Mitarbeiterin Alain Touraines, stellt fuer die
80er Jahre im Vergleich noch zu den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts einen
Transnationalisierungsschub der neuen sozialen Bewegungen fest. Diese
adressierten direkt planetare Belange und forderten die Problemloesung auf
einem globalen Niveau heraus. Gemeint sind Bewegungen wie die fuer Frieden
und Abruestung, die OEkologiebewegung, die gegen die suedafrikanische
Apartheid oder die Kampagnen gegen den Hunger (Hegedus 1990, S. 276).
Welchen Einfluss derartige Weltbuergerinitiativen ausueben koennen, macht
Ulrich Beck am von Greenpeace 1995 ausgeloesten Boykott des OElkonzerns
Shell deutlich (Beck 1997, S. 121-127).
Einseitig erscheint sowohl eine vollstaendige Daemonisierung der
Globalisierung als auch ein unkritischer Fortschrittsoptimismus hinsichtlich
ihrer Auswirkungen. Dialektisch kann davon ausgegangen werden, dass die
oekonomische Globalisierung des Kapitalismus, die wir derzeit in seiner
postfordistischen Phase erleben, die Lebensverhaeltnisse weiter Teile der
Weltbevoelkerung verschlechtert. Die globalen Probleme verschaerfen sich,
die Kluft zwischen Arm und Reich nimmt nicht nur zwischen Erster und Dritter
Welt zu, sondern zeigt sich auch immer drastischer und intensiver in den
kapitalistischen Metropolen selbst. Ein wesentlicher Aspekt der Dialektik
der Globalisierung ist nun aber, dass die Globalisierung in ihrer
technischen und politischen Dimension auch Chancen auf gesellschaftliche
Veraenderung durch die globale Vernetzung gesellschaftlicher Subjekte, die
der permanenten Zunahme der Prekaersierung der Lebensverhaeltnisse
ausgesetzt sind, bietet.
Es kann argumentiert werden, dass sich Macht- und Herrschaftsverhaeltnisse
sowie gesellschaftliche Ungleichheiten im Internet als virtuelle
Segmentierungen reproduzieren. Es kann auch gesagt werden, dass es
bezueglich der Partizipationschancen im Internet bipolare Spaltungen
zwischen Arm/Reich, Westen/Entwicklungslaender, Mann/Frau,
Gebildet/Ungebildet, Maechtig/Machtlos, usw. gibt. Es gibt Ungleichheiten in
Bezug auf die Verteilung von notwendigen Basisressourcen und Netzwerkknoten,
im Eigentum von technischen Voraussetzungen, in der Geschlechter-, Sozial-,
Kompetenz- und Qualifikationsstruktur der UserInnen und im Eigentum von
Waren, die ueber das Internet transportiert und gehandelt werden.
Nichtsdestotrotz koennen sich Neue Soziale Bewegungen das Internet fuer ihre
eigenen Zwecke aneignen. Es handelt sich zwar um einen herrschaftsfoermigen
virtuellen Raum, der durch etliche Asymmetrien gekennzeichnet ist, aber
trotzdem gibt es darin, genauso wie in der realen Gesellschaft, Nischen fuer
alternative Taetigkeiten.
In Fuchs (2000b) wurde die Herausbildung emanzipatorischer sozialer
Netzwerke naeher untersucht und in den theoretischen Rahmen der
Selbstorganisationstheorie gestellt. Solche Netzwerke koennen mit Gilles
Deleuze und Félix Guattari als Rhizome angesehen werden.
Alexa Mohl (1992) definiert ein emanzipatorisches Subjekt folgendermassen:
?Ein emanzipatorisches Subjekt ist also nach Marx dadurch gekennzeichnet,
dass es ein Bewusstsein, Beduerfnisse, Faehigkeiten und Kraefte besitzt, die
ueber die Lebensbedingungen der bestehenden Gesellschaft hinausweisen, und
dass es diese Eigenschaften in praktischen Kaempfen manifestiert, in
Kaempfen, deren Form den Charakter der gesellschaftlichen Lebenspraxis, wie
sie die buergerlichen Verhaeltnisse ausgepraegt haben, ueberwindet" (Mohl
1992, S. 73).
Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass soziale Bewegungen automatisch
einen emanzipatorischen Charakter haben. Soziale Bewegungen als potentiell
emanzipatorische Subjekte koennen emanzipatorische Beduerfnisse und
Faehigkeiten, gesellschaftskritisches Bewusstsein, eine
gesellschaftskritische Praxis und Organisationsformen der Selbstorganisation
und der Autonomie entwickeln, dies sind jedoch nicht automatisch ihre
Eigenschaften. Manche dieser Bewegungen weisen einige dieser Charakteristika
auf (eine basisdemokratische Organisationsform, also Autonomie und
Selbstorganisation, ist sogar haeufig zu finden), jedoch auch dies macht sie
noch nicht notwendigerweise zum emanzipatorischen Subjekt.
Wenn sich soziale Bewegungen vernetzen und eine gemeinsame politische Praxis
entwickeln, so handelt es sich dabei noch nicht notwendigerweise um ein
emanzipatorisches soziales Netzwerk, ein Rhizom. Damit von einem Rhizom
gesprochen werden kann, muessen naemlich mehrere Bedingungen erfuellt sein:
1. Prinzip der Konnexion:
Jeder Punkt eines Rhizoms kann und muss mit jedem anderen verbunden werden.
Elemente, die dabei miteinander verknuepft sind, koennen z.B. ?politische,
oekonomische und biologische Kettenglieder" sein, ?semiotische Kettenteile,
Machtorganisationen, Ereignisse in Kunst, Wissenschaft und
gesellschaftlichen Kaempfen" (Deleuze/Guattari 1977, S. 12).
Die Punkte/Elemente eines solchen sozialen Netzwerks sind soziale
Bewegungen. Deleuze und Guattari erwaehnen sogar explizit, dass es sich bei
den Punkten um Phaenomene aus gesellschaftlichen Kaempfen handeln kann.
Dieses Rhizom wird eigentlich dadurch geformt, dass sich soziale Bewegungen
aufeinander beziehen, sie haben eine gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion,
auf Basis derer sie kooperieren, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Es kann
die Ansicht vertreten werden, dass es sich nur um ein emanzipatorisches
soziales Netzwerk handeln kann, wenn jedes Element mit jedem anderen
verbunden ist, da eine Eigenschaft eines emanzipatorischen Subjekts seine
Autonomie ist. D.h., dass es sich seine Regeln, Normen, Werte
selbstorganisiert und ohne Fremdbestimmung schafft. Dabei sind eine
symmetrische Machtverteilung und eine gerechte Verteilung der Ressourcen,
die zur Partizipation bei der Entscheidungsfindung notwendig sind,
Voraussetzungen.
Die Organisationsweise eines rhizomatischen sozialen Netzwerks antizipiert
eine zukuenftige Gesellschaft, in der jene unterdrueckerischen Kategorien
aufgehoben sind, gegen die sich die sozialen Bewegungen wenden, die sich in
diesem Rhizom organisieren. Es handelt sich um eine Gesellschaft, in der die
Entscheidungsfindung in derselben basisdemokratischen Weise vor sich geht,
in der diese sozialen Bewegungen bereits unter den bestehenden
Verhaeltnissen miteinander umgehen.
So ein soziales Rhizom hat einen emanzipatorischen Charakter. Dieser
Charakter ist geradezu eine notwendige Bedingung, damit im Rahmen eines
sozialen Netzwerks von einem Rhizom gesprochen werden kann. Bilden sich neue
Hierarchien, Machtzentren, Zwaenge oder Zentren in so einem Netzwerk, so
kann nicht mehr von einem Rhizom gesprochen werden, da der dezentrale und
antihierarchische Charakter verlorengeht, der durch die Bedingung eines
Rhizoms, dass jedes Element mit jedem anderen verbunden werden kann und
muss, gegeben sein muss.
2. Prinzip der Heterogenitaet:
Die Elemente des Rhizoms koennen nach den verschiedensten Codierungsarten
miteinander verknuepft sein. Das Rhizom ist nicht hierarchisch und zentral
organisiert wie eine Baumstruktur, sondern hat eine antihierarchische und
dezentrale Form.
Die Elemente eines Rhizoms koennen auf verschiedene Arten miteinander
verknuepft sein. Was bedeutet eine solche Verknuepfung? Die sozialen
Bewegungen beziehen sich im Rahmen sozialer Beziehungen in der Form sozialer
Interaktionen aufeinander. Ein Kommunikations- und Austauschprozess ueber
Probleme, Ziele, Mittel, soziale Informationen usw. muss stattfinden,
ansonsten kann sich kein soziales Netzwerk bilden. Bei diesen
Kommunikations- und Entscheidungsvorgaengen muss die dezentrale und
nichthierarchische Form aufrechterhalten bleiben, die aus Prinzip 1 folgt,
damit von einem Rhizom gesprochen werden kann.
Diese Vorgaenge koennen auf verschiedene Weise realisiert werden,
beispielsweise durch Treffen oder ueber das Internet. Letzteres bietet den
Vorteil, dass relativ schnell ueber Newsgroups, E-Mail und Mailinglisten
Infos verbreitet werden koennen. Auch Diskussionen und
Entscheidungsfindungen sind ueber das Internet moeglich. In sozialen
Rhizomen, die eine weltweite Ausdehnung haben (wie z.B. Peoples? Global
Action oder die Solidaritaetsbewegung mit den Zapatistas), koennen
Face-to-Face-Meetings nur aeusserst selten stattfinden. Computer Mediated
Communication (CMC) ist daher eine Moeglichkeit, um globale
Widerstandsnetzwerke zu organisieren. Dabei koennen sich neue soziale
Bewegungen den antihierarchischen und dezentralen Charakter des Netzes,
seine Schnelligkeit, Interaktivitaet und die Moeglichkeit zur
polydirektionalen Kommunikation zu Nutze machen. Und dies ist moeglich,
obwohl es sich beim Internet auf Grund der Ungleichheiten und virtuellen
Segmentierungen, die sich darin reproduzieren, um kein Rhizom handelt.
Natuerlich kann argumentiert werden, dass auf Grund der mangelnden
Partizipationschancen im Internet soziale Bewegungen, die keinen Zugang
haben, von emanzipatorischen rhizomatischen Netzwerken ausgeschlossen
bleiben. Dieses Problem laesst sich moeglicherweise ueber einen Finanzpool
loesen, in den die TeilnehmerInnen eines solchen rhizomatischen Netzwerkes
freiwillig nach Belieben einzahlen, um die notwendige technische
Infrastruktur zu finanzieren. Weiters kann technisches Equipment, dass von
sozialen Bewegungen in einem Rhizom nicht mehr benoetigt wird, an andere
Organisationen, die sich im selben Netzwerk befinden, weitergegeben werden.
3. Prinzip der Vielheit:
Wesentlich im Rhizom sind nicht die Punkte, sondern die Linien, die sie
verbinden. ?Vielheiten werden durch das Aussen definiert: durch die
abstrakte Linie, die Flucht- oder Deterritorialisierungslinie, auf der sie
sich veraendern, indem sie sich mit anderen verbinden. Der
Konsistenzplan (Raster) ist das Aussen aller Vielheiten" (ebd., S. 15).
Deleuze und Guattari unterscheiden drei Formen von Linien: Linien molarer
Segmentaritaet, Linien molekularer Segmentierung und abstrakte Fluchtlinien.
Die erste Form der Linie schafft Segmentaritaeten, sich bipolar
gegenueberstehende Milieus (das sind widerspruechliche
Verhaeltnisse/Spaltungen zwischen z.B. Reich/Arm, Nord/Sued,
Zentrum/Peripherie, Kapital/Lohnarbeit, Mann/Frau, InlaenderIn/AuslaenderIn,
Heterosexuelle/Homosexuelle, Arbeitende/Arbeitslose, Weiss/Schwarz,
Erwachsen/Jung, UmweltzerstoererIn/ UmweltschuetzerIn,
MilitaristInnen/PazifistInnen (entspricht Krieg/Frieden),
RassistIn/AntirassistIn, KapitalistIn/AntikapitalistIn, zwischen Menschen,
die als duenn, schoen, ?normal" oder intelligent gelten einerseits und
solchen, die als dick, haesslich, ?abnormal" oder dumm gelten andererseits
usw.). Die Milieus werden quasi binaer codiert. Die Fluchtlinie fuehrt zu
einem Ende der Segmentaritaeten. Die molaren Linien schaffen die grossen
gesellschaftlichen Bipolaritaeten, benoetigen jedoch auch Linien, die auf
einer mikroskopischen, persoenlichen Ebene arbeiten. Dies sind die
molekularen Linien.
Fluchtlinien sind also ein wesentliches Moment eines Rhizoms. Sie sind jene
Teile des Rhizoms, die die molaren/segmentarisierenden Linien aufbrechen
wollen. Nichtsdestotrotz besteht die Gefahr, dass die alten oder neue
Segmentaritaeten festgeschrieben werden.
Jede soziale Bewegung, die Teil eines emanzipatorischen sozialen Netzwerks
ist, kann als Plateau angesehen werden. Plateaus sind die Elemente eines
Rhizoms und werden ueber Linien verbunden. Bei den Linien, also den
Verbindungen zwischen Elementen, handelt es sich um kommunikative Linien,
die ueber Medien wie die Sprache oder das Internet vermittelt werden
koennen. Die einzelnen Plateaus verfolgen Fluchtlinien, um bestehende
Segmentaritaeten in der Gesellschaft aufzuheben. Es besteht dabei immer die
Gefahr, dass die eigene Bewegung zerschlagen wird oder nicht mehr laenger
aufrechtzuerhalten ist. Damit droht eine Reterritorialisierung, eine
Verhaertung der bestehenden Linien. Die Aufhebungsbewegung, die sich gegen
eine molare Linie richtet, wird dadurch geschwaecht. Rhizomatische soziale
Netzwerke koennen sich um einzelne oder mehrere Fluchtlinien gruppieren.
Eine gemeinsame Flucht bedeutet ein staerkeres Widerstandspotential. Eine
Zerstoerung oder Reterritorialisierung durch Kraefte, die in Opposition zu
jenen Zielen stehen, die das Rhizom verfolgt, wird so erschwert.
4. Prinzip des asignifikanten Bruchs:
Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle zerstoert werden, es wuchert
entlang seiner eigenen oder entlang anderer Linien weiter.
Zur Zerstoerung von Teilen eines sozialen Widerstandsnetzwerkes kann es
kommen, wenn einzelne soziale Bewegungen mit der Politik, die das Rhizom
macht, unzufrieden sind und daher aussteigen oder wenn ein Element zerstoert
oder aufgeloest wird. Das Prinzip der Konnexion (siehe oben unter 1.) sollte
dafuer sorgen, dass saemtliche Teile des Rhizoms an Entscheidungsfindungen
im gleichen Ausmass partizipieren koennen, indem inklusive soziale
Informationen durch Kooperation hervorgebracht werden. Dies sollte eine
wesentliche Bedingung fuer die Zufriedenheit aller mit der politischen
Arbeit im und des Rhizoms sein. Nichtsdestotrotz kann es vorkommen, dass
Teile unzufrieden sind und aussteigen. Das Rhizom wird dadurch evtl.
geschwaecht, es kann aber in den meisten Faellen weiter existieren.
Tatsaechlich ist ein permanentes Kommen und Gehen, eine Vergroesserung und
Verkleinerung der Rhizomstruktur, moeglich, indem zusaetzliche soziale
Bewegungen sich dem Netzwerk anschliessen oder Elemente aus dem Netzwerk
ausscheiden.
Emanzipatorische soziale Rhizome koennen auch einen temporaer beschraenkten
Charakter haben. Wird ein gewisses Ziel erreicht bzw. nicht erreicht oder
ist ein bestimmtes Ereignis eingetreten, so loest es sich wieder auf. Solche
Rhizome organisieren z.B. Demonstrationen oder Veranstaltungen. Loest sich
das Rhizom auf, so muss dies nicht notwendigerweise eine
Reterritorialisierung durch unterdrueckende Kraefte bedeuten, sondern neue
Rhizome koennen aus dem alten hervorgehen und spontan auftreten. Eine
temporaere Beschraenktheit der Existenz von Rhizomen macht eine
Unterwanderung und Zerstoerung durch feindlich gesinnte Kraefte tatsaechlich
schwieriger.
5. + 6. Prinzip der Kartographie und Prinzip der Dekalkomonie (=Verfahren,
Abziehbilder herzustellen): Ein Rhizom ist eine Karte und keine Kopie. Eine
Kopie wie ein Baum ist hierarchisch aufgebaut, eine Strukturform setzt sich
immer weiter fort (z.B. wenn jedes Element genau zwei Nachfolger hat), sie
wird quasi kopiert. Eine Karte hingegen hat keinen hierarchischen Aufbau,
sie hat im Gegensatz zur Kopie viele Eingaenge, eine Kopie laeuft immer ?auf
das Gleiche" hinaus. Das Rhizom negiert also quasi die Reduktion auf
einfache Teile. Es kann versucht werden, Kopien einer Karte herzustellen.
Diese sind jedoch keine genauen Reproduktionen, sondern Verfaelschungen. In
einer Karte verlaeuft der Informationsfluss antihierarchisch.
Eine notwendige Bedingung des antihierarchischen und dezentralen Charakters
eines sozialen Netzwerkes (siehe Prinzip 1), das sich aus sozialen
Bewegungen zusammensetzt, ist sein emanzipatorischer Charakters in der Form
inklusiver sozialer Informationen.
Will sich eine neue Person oder soziale Bewegung dem Netzwerk anschliessen,
so kann sie sich potentiell an jedes einzelne Plateau wenden. Es gibt keine
zentrale Befehlsgewalt, die alleine ueber eine neue Aufnahmen entscheiden
kann. Erfolgt die Kommunikation ueber das Internet, so ist eine derartige
dezentrale Kontaktaufnahme umso einfacher. Wenn nicht, so muss sich das
potentiell neue Plateau im Rhizom in den meisten Faellen an eine Bewegung
wenden, die sich in oertlicher Naehe befindet. Dezentrale
Kommunikationsformen koennen hingegen mehrere Eingaenge zur Verfuegung
stellen.
Nochmals erwaehnt werden soll, dass das Internet selbst kein Rhizom ist,
dass es aber ein Medium ist, dass dazu beitragen kann, dass Dezentralitaet
und Enthierarchisiertheit in einem emanzipatorischen, rhizomatischen
sozialen Netzwerk hergestellt und aufrechterhalten werden, indem seine
positiven Eigenschaften genutzt werden. Dies ist trotz virtuellen
Segmentaritaeten moeglich. Das Rhizom selbst hat aber einen sozialen
Charakter und keinen technischen. Es handelt sich um die permanente
Herstellung sozialer Beziehungen, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Das
Internet als technische Ebene kann dabei einen Vermittlungscharakter
einnehmen. Es ist nicht automatisch ein Medium emanzipatorischer Vernetzung,
kann aber zu einem solchen gemacht werden.
Es kann nicht nur wechselseitige Verstaerkungsprozesse, also
Rueckkopplungen, zwischen rhizomatischen sozialen Bewegungen geben, sondern
auch zwischen Rhizomen. Ein Rhizom wird dabei zum Plateau, dem Element eines
Rhizoms. Rhizome interagieren dann so miteinander und verstaerken sich
derart, dass ein neues Rhizom emergiert, ein Meta-Rhizom. Rhizome in einem
Rhizom, Rhizome in einem Rhizom von Rhizomen, usw., ein selbstaehnlicher
Charakter einer solchen Struktur ist moeglich. Real waeren dies komplexe
Netzwerke von sozialen Bewegungen, die sich nicht nur auf einzelne Linien
beschraenken, sondern sich auf eine Fuelle gesellschaftlicher Linien und die
dadurch definierten bipolaren Verhaeltnisse und Segmentaritaeten beziehen.
In einer derartigen Struktur besteht eine Menge subversiver Fluchtlinien,
die zur Emergenz einer qualitativ neuen Fluchtlinie aus dem Kapitalismus
fuehren koennen. Diese bezieht sich dann nicht auf Einzelfragen, sondern
koennte eine Aufhebungsbewegung der bestehenden gesellschaftlichen
Verhaeltnisse bedeuten.
Dazu waere jedoch ein emantizipatorischer Charakter eines solchen
Meta-Rhizoms noetig. Dieser ist jedoch bei vielen sozialen Bewegungen nicht
automatisch gegeben, da die oekonomischen Wurzeln gesellschaftlicher
Probleme nicht adaequat erfasst werden, woraus sich eine
Institutionalisierung oder die Verfolgung reformistischer und auf
Einzelfragen beschraenkter Ziele ergibt. Eine solche Konzentration auf
Einzelfragen steht aber der Emergenz einer Fluchtlinie aus dem Kapitalismus
und Neoliberalismus entgegen, da dazu eine umfassende Perspektive notwendig
waere, die vermittelt, dass weltweit Menschen durch Kapitalismus,
Neoliberalismus und Globalisierung segmentarisiert werden und dass sie daher
zusammenarbeiten koennten.
Ein emanzipatorisches Subjekt hat ein Bewusstsein, das ueber den
Kapitalismus hinausweist. Es erkennt, dass diese Gesellschaftsformation eine
wesentliche Ursache der bestehenden globalen Probleme ist. Und genau dieses
Bewusstsein fehlt vielen sozialen Bewegungen, damit sie als emanzipatorisch
bezeichnet werden koennen. Die Moeglichkeit einer intellektuellen Avantgarde
kann daher in Betracht gezogen werden, die Aufklaerungsarbeit ueber die
Moeglichkeit von Alternativen zum Kapitalismus leistet, um die Bildung von
emanzipatorischen Rhizomen und Meta-Rhizomen zu triggern und um potentiell
emanzipatorische Subjekte zu tatsaechlich emanzipatorischen Subjekten zu
machen, die ihre Probleme als jene anderer und diejenigen anderer als ihre
eigenen begreifen. Mit einer intellektuellen Avantgarde ist dabei nicht eine
Fuehrungsbewegung im Sinne marxistisch-leninistischer Parteien gemeint,
sondern Menschen, die durch alternative Sozialisierung und Zugaenge eine
antikapitalistische Position bekommen haben und daher anderen die
Moeglichkeit einer postkapitalistischen Gesellschaftsformation vermitteln
wollen, ohne einen Fuehrungs- oder Herrschaftsanspruch geltend zu machen.
Die intellektuelle Avantgarde fuehrt somit eine Veraenderung der
Gesellschaft nicht an, sondern gibt nur den Anstoss dazu.
Vernetzte, emanzipatorische soziale Bewegungen muessen nicht homogene
Interessen haben und auf eine Homogenisierung ihrer Politik abzielen, um
eine gemeinsame politische Perspektive zu erlangen. Sie muessen auch nicht
auf ein Zulassen aller moeglichen politischen Richtungen - ein anything goes
- innerhalb ihres rhizomatischen Netzwerkes hinarbeiten. Vielmehr koennen
sie eine dialektische Einheit in der Vielfalt betreiben, d.h. dass sie
einerseits die Unterschiede in ihren politischen Herangehensweisen und
Vorstellungen sowie in der Auspraegung in ihren spezifischen lokalen und
regionalen politischen Situation betonen koennen und andererseits aber
nichtsdestotrotz gleichzeitig eine gemeinsame Perspektive entwickeln
koennen, indem sie das Verbindende betonen, herausarbeiten und als ein
Leitbild der politischen Praxis verwenden. Eine solche Herangehensweise ist
auch das Muster der dialektischen Form der kulturellen Globalisierung, die
sich von reduktionistischen, projektionistischen und dualistischen Arten
unterscheiden laesst.
Die Kulturwissenschaftler Steven Best und Douglas Kellner (1997) sehen eine
solche politische Position als Synthese von moderner und postmoderner
Politik. Es sei eine Einheit von Herangehensweisen der ?modernen Politik"
wie die Betonung von Solidaritaet, Allianzen, Konsens, universellen Rechten
und einer Makropolitik sowie von Herangehensweisen der ?postmodernen
Politik" wie die Betonung von Differenz, Pluralitaet, Multiperspektivitaet,
Identitaet und einer Mikropolitik notwendig. Eine solche Dialektik von
Moderne und Postmoderne koenne bei der Loesung der grossen politischen
Probleme fruchtbar sein.
Zusammenfassend: Jedes politische System entwickelt im Lauf seiner
historischen Weiterentwicklung eine globale Dimension. Die spezifische
Auspraegung dieser Globalitaet ist im Kapitalismus durch politische
Antagonismen (globale Konflikte, Klassenkampf, Klassenfraktionen) gepraegt.
Die politische Globalisierung kann im Sinn von Deleuze und Guattari aber
auch als die Emergenz emanzipatorischer sozialer Netzwerke verstanden
werden, deren Teile gegen die prekaeren Lebensverhaeltnisse im Zeitalter des
Postfordismus und des Neoliberalismus gemeinsam alternative
gesellschaftliche Perspektiven entwickeln und in der Praxis
gesellschaftlicher Auseinandersetzungen umsetzen. So koennte eine
Aufhebungsbewegung der bestehenden Verhaeltnisse entstehen, deren Dialektik
darin besteht, dass sie sich durch eine Unzahl antagonistischer
Verhaeltnisse auszeichnen. Technische Globalisierung kann als
vereinfachendes Medium einer solchen rhizomatischen Vernetzung betrachtet
werden. Eine dialektische Form emanzipatorischer Politik koennte den
Charakter der Einheit in der Vielfalt annehmen.
Beck, Ulrich (1997) Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus -
Antworten auf Globalisierung. Frankfurt/Main. Suhrkamp
Best, Steven/Kellner, Douglas (1997) The Postmodern Turn. New York/London.
Guilford Press
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977) Rhizom. Berlin. Merve
Fuchs, Christian (2000b) Selbstorganisation in der Informationsgesellschaft.
Wien. TU Wien. Online unter: http://stud4.tuwien.ac.at/~e9426503
Hegedus, Szusza (1990) Social Movements and Social Change in Self-Creative
Society. New Civil Initiatives in the International Arena. In: Albrow,
Martin/King, Elizabeth (Hrsg.) (1990) Globalization, Knowledge and Society.
Readings from International Sociology. London. Sage. S. 263-279
Koessler, Reinhard/Melber, Henning (1993) Chancen internationaler
Zivilgesellschaft. Frankfurt/Main. Suhrkamp
Mohl, Alexa (1992) Die neuen sozialen Bewegungen. Eine Formanalyse ihre
emanzipatorischen Praxis. Frankfurt am Main/New York. Campus
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