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[ox] Re: Die Rolle der Politik



Lieber Franz und Oekonux-Listige,

Jede Idee des "Primats der Politik" setzt letztlich die Vorstellung von
den "Kommandohöhen der Volkswirtschaft" voraus. Nichtstaatliche Politik
ist quasi eine "Option auf den Staat".
Das "Muster" von "oben" verändern ein Widerspruch in sich. Denn
das "oben" gibt es nur weil es sich durch Akkumulation und Mehrprodukt
erhält. So kommen die Joschka Fischers zustande, aber auch die
Salvador Allendes. Beide Male ein tragischer Verlauf.

mir schwebt bei meinem Politikbegriff nicht eine Politik der Eroberung des Staates a la Fischer vor, sondern eine Politik gegen den Kapitalismus und damit notwendigerweise auch gegen den Staat als integralen Bestandteil des Kapitalismus. Politik im Sinn der emanzipatorischen und globalen Vernetzung unterdrueckter Gruppen im Sinn einer Einheit in der Vielfalt. Natuerlich Selbstorganisation von unten, da sind wir uns ganz einig. Mit dem Begriff der politischen Selbstorganisation werden bei mir offene Türen eingerennt. Die von mir gegebene Definition von Politik ist eine allgemein-abstrakte, natürlich hat Politik aber eine konkrete Bedeutung in jeder Gesellschaftsformation. Und da schwebt mir eben Politik als Selbstorganisationsform gegen den Kapitalismus und als Selbstorganisationsform für ein danach vor. Dies ist aber zu unterscheiden von staatlicher Politik im hier und jetzt. Beide Begriffe folgen aber der allgemeinen Politikdefinition. Staat bedeutet immer ein von oben und daher immer Fremdorganisation und Minimierung der Selbstorganisation (siehe auch den 4. Abschnitt von Selbstorganisation in der Informationsgesellschaft ueber "Demokratie und Selbstorganisation" http://stud4.tuwien.ac.at/~e9426503). Wenn Demokratie als umfassende und direkte Selbstbestimmung der Menschen verstanden wird, also als ein Inbegriff von Selbstorganisation, so muss gesagt werden, dass die kapitalistische Repraesentativdemokratie eigentlich undemokratisch und nicht selbstorganisierend ist. Eine selbstorganisierende Gesellschaft muesste also eine ohne jede staatliche Vermittlung der Politik sein. Trotzdem Primat der Politik über die Ökonomie im doppelten Sinn: Einerseits als emanzipatorische Strategie, da ich der Ansicht bin, daß alle gegenökonomischen Versuche, den Kapitalismus zu transzendieren, als ernstzunehmende emanzipatorische Projekte zum Scheitern verurteilt sind (Tauschringe, selbstverwaltete Betriebe etc.). Und andererseits als Ziel, denn Kapitalismus bedeutet Dominanz der Ökonomie über die Entscheidungsfindung der Menschen (kapitalistische Politik). Wollen die Menschen sich selbst bestimmen und ihrer selbst sein, so muß die ökonomische und die politische Entfremdung aufgehoben werden und die selbstorganisierte Entscheidungsfindung (Politik als Selbstorganisation) zu einem Lebensmittelpunkt werden. Ziel dürfte dann nicht die Eroberung des Staates sein, sondern seine Aufhebung sowie auch die Aufhebung des Kapitalismus. Um zu versuchen, diesen Politikbegriff zu praezisieren, ein kurzer Ausschnitt aus dem umfassenden Aufsatz Fuchs/Hofkirchner - Die Dialektik der Globalisierung in Technik, Oekonomie, Politik und Kultur (wird bald im Netz veroeffentlicht). Wem das jetzt zu lang wird, der soll bitte hier einfach zum Lesen aufhoeren.
Gruss,
C.


Politische Globalisierung bezeichnet nicht nur ueber den Nationalstaat hinausgehende offizielle politische und militaerische Buendnisse herrschender politischer und oekonomischer Fraktionen (z.B. G8, UNO, Weltsicherheitsrat, NATO, Weltbank, IWF, OECD, WHO) mit dem Ziel, oekonomische Interessen durchzusetzen, sondern meint insbesonders auch die durch die soziale, kommunikative und technische Vernetzung gegebene Moeglichkeit der gemeinsamen politischen Organisierung von raum-zeitlich entfernten marginalisierten und unterdrueckten sozialen Gruppen. Weltinnenpolitik ist nicht (blosses) Aggregat der staatlichen Aussenpolitiken, sondern es betreten (darueber hinaus) neue politische Akteure das Parkett der internationalen Beziehungen: die internationalen Nichtregierungsorganisationen, die Speerspitzen der neuen sozialen Bewegungen, in welchen sich die Zivilgesellschaft globalisiert. Koessler und Melber definieren diese als ?ein Netzwerk von Organisationen und informellen Zusammenhaengen, das geeignet ist, als Widerlager und Widerpart gegenueber dem jeweiligen Staatsapparat aufzutreten" (Koessler/Melber 1993, S. 93). Szusza Hegedus, langjaehrige Mitarbeiterin Alain Touraines, stellt fuer die 80er Jahre im Vergleich noch zu den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts einen Transnationalisierungsschub der neuen sozialen Bewegungen fest. Diese adressierten direkt planetare Belange und forderten die Problemloesung auf einem globalen Niveau heraus. Gemeint sind Bewegungen wie die fuer Frieden und Abruestung, die OEkologiebewegung, die gegen die suedafrikanische Apartheid oder die Kampagnen gegen den Hunger (Hegedus 1990, S. 276). Welchen Einfluss derartige Weltbuergerinitiativen ausueben koennen, macht Ulrich Beck am von Greenpeace 1995 ausgeloesten Boykott des OElkonzerns Shell deutlich (Beck 1997, S. 121-127). Einseitig erscheint sowohl eine vollstaendige Daemonisierung der Globalisierung als auch ein unkritischer Fortschrittsoptimismus hinsichtlich ihrer Auswirkungen. Dialektisch kann davon ausgegangen werden, dass die oekonomische Globalisierung des Kapitalismus, die wir derzeit in seiner postfordistischen Phase erleben, die Lebensverhaeltnisse weiter Teile der Weltbevoelkerung verschlechtert. Die globalen Probleme verschaerfen sich, die Kluft zwischen Arm und Reich nimmt nicht nur zwischen Erster und Dritter Welt zu, sondern zeigt sich auch immer drastischer und intensiver in den kapitalistischen Metropolen selbst. Ein wesentlicher Aspekt der Dialektik der Globalisierung ist nun aber, dass die Globalisierung in ihrer technischen und politischen Dimension auch Chancen auf gesellschaftliche Veraenderung durch die globale Vernetzung gesellschaftlicher Subjekte, die der permanenten Zunahme der Prekaersierung der Lebensverhaeltnisse ausgesetzt sind, bietet. Es kann argumentiert werden, dass sich Macht- und Herrschaftsverhaeltnisse sowie gesellschaftliche Ungleichheiten im Internet als virtuelle Segmentierungen reproduzieren. Es kann auch gesagt werden, dass es bezueglich der Partizipationschancen im Internet bipolare Spaltungen zwischen Arm/Reich, Westen/Entwicklungslaender, Mann/Frau, Gebildet/Ungebildet, Maechtig/Machtlos, usw. gibt. Es gibt Ungleichheiten in Bezug auf die Verteilung von notwendigen Basisressourcen und Netzwerkknoten, im Eigentum von technischen Voraussetzungen, in der Geschlechter-, Sozial-, Kompetenz- und Qualifikationsstruktur der UserInnen und im Eigentum von Waren, die ueber das Internet transportiert und gehandelt werden. Nichtsdestotrotz koennen sich Neue Soziale Bewegungen das Internet fuer ihre eigenen Zwecke aneignen. Es handelt sich zwar um einen herrschaftsfoermigen virtuellen Raum, der durch etliche Asymmetrien gekennzeichnet ist, aber trotzdem gibt es darin, genauso wie in der realen Gesellschaft, Nischen fuer alternative Taetigkeiten. In Fuchs (2000b) wurde die Herausbildung emanzipatorischer sozialer Netzwerke naeher untersucht und in den theoretischen Rahmen der Selbstorganisationstheorie gestellt. Solche Netzwerke koennen mit Gilles Deleuze und Félix Guattari als Rhizome angesehen werden. Alexa Mohl (1992) definiert ein emanzipatorisches Subjekt folgendermassen: ?Ein emanzipatorisches Subjekt ist also nach Marx dadurch gekennzeichnet, dass es ein Bewusstsein, Beduerfnisse, Faehigkeiten und Kraefte besitzt, die ueber die Lebensbedingungen der bestehenden Gesellschaft hinausweisen, und dass es diese Eigenschaften in praktischen Kaempfen manifestiert, in Kaempfen, deren Form den Charakter der gesellschaftlichen Lebenspraxis, wie sie die buergerlichen Verhaeltnisse ausgepraegt haben, ueberwindet" (Mohl 1992, S. 73). Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass soziale Bewegungen automatisch einen emanzipatorischen Charakter haben. Soziale Bewegungen als potentiell emanzipatorische Subjekte koennen emanzipatorische Beduerfnisse und Faehigkeiten, gesellschaftskritisches Bewusstsein, eine gesellschaftskritische Praxis und Organisationsformen der Selbstorganisation und der Autonomie entwickeln, dies sind jedoch nicht automatisch ihre Eigenschaften. Manche dieser Bewegungen weisen einige dieser Charakteristika auf (eine basisdemokratische Organisationsform, also Autonomie und Selbstorganisation, ist sogar haeufig zu finden), jedoch auch dies macht sie noch nicht notwendigerweise zum emanzipatorischen Subjekt. Wenn sich soziale Bewegungen vernetzen und eine gemeinsame politische Praxis entwickeln, so handelt es sich dabei noch nicht notwendigerweise um ein emanzipatorisches soziales Netzwerk, ein Rhizom. Damit von einem Rhizom gesprochen werden kann, muessen naemlich mehrere Bedingungen erfuellt sein:

1.  Prinzip der Konnexion:
Jeder Punkt eines Rhizoms kann und muss mit jedem anderen verbunden werden. Elemente, die dabei miteinander verknuepft sind, koennen z.B. ?politische, oekonomische und biologische Kettenglieder" sein, ?semiotische Kettenteile, Machtorganisationen, Ereignisse in Kunst, Wissenschaft und gesellschaftlichen Kaempfen" (Deleuze/Guattari 1977, S. 12). Die Punkte/Elemente eines solchen sozialen Netzwerks sind soziale Bewegungen. Deleuze und Guattari erwaehnen sogar explizit, dass es sich bei den Punkten um Phaenomene aus gesellschaftlichen Kaempfen handeln kann. Dieses Rhizom wird eigentlich dadurch geformt, dass sich soziale Bewegungen aufeinander beziehen, sie haben eine gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion, auf Basis derer sie kooperieren, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Es kann die Ansicht vertreten werden, dass es sich nur um ein emanzipatorisches soziales Netzwerk handeln kann, wenn jedes Element mit jedem anderen verbunden ist, da eine Eigenschaft eines emanzipatorischen Subjekts seine Autonomie ist. D.h., dass es sich seine Regeln, Normen, Werte selbstorganisiert und ohne Fremdbestimmung schafft. Dabei sind eine symmetrische Machtverteilung und eine gerechte Verteilung der Ressourcen, die zur Partizipation bei der Entscheidungsfindung notwendig sind, Voraussetzungen. Die Organisationsweise eines rhizomatischen sozialen Netzwerks antizipiert eine zukuenftige Gesellschaft, in der jene unterdrueckerischen Kategorien aufgehoben sind, gegen die sich die sozialen Bewegungen wenden, die sich in diesem Rhizom organisieren. Es handelt sich um eine Gesellschaft, in der die Entscheidungsfindung in derselben basisdemokratischen Weise vor sich geht, in der diese sozialen Bewegungen bereits unter den bestehenden Verhaeltnissen miteinander umgehen. So ein soziales Rhizom hat einen emanzipatorischen Charakter. Dieser Charakter ist geradezu eine notwendige Bedingung, damit im Rahmen eines sozialen Netzwerks von einem Rhizom gesprochen werden kann. Bilden sich neue Hierarchien, Machtzentren, Zwaenge oder Zentren in so einem Netzwerk, so kann nicht mehr von einem Rhizom gesprochen werden, da der dezentrale und antihierarchische Charakter verlorengeht, der durch die Bedingung eines Rhizoms, dass jedes Element mit jedem anderen verbunden werden kann und muss, gegeben sein muss.

2. Prinzip der Heterogenitaet:
Die Elemente des Rhizoms koennen nach den verschiedensten Codierungsarten miteinander verknuepft sein. Das Rhizom ist nicht hierarchisch und zentral organisiert wie eine Baumstruktur, sondern hat eine antihierarchische und dezentrale Form. Die Elemente eines Rhizoms koennen auf verschiedene Arten miteinander verknuepft sein. Was bedeutet eine solche Verknuepfung? Die sozialen Bewegungen beziehen sich im Rahmen sozialer Beziehungen in der Form sozialer Interaktionen aufeinander. Ein Kommunikations- und Austauschprozess ueber Probleme, Ziele, Mittel, soziale Informationen usw. muss stattfinden, ansonsten kann sich kein soziales Netzwerk bilden. Bei diesen Kommunikations- und Entscheidungsvorgaengen muss die dezentrale und nichthierarchische Form aufrechterhalten bleiben, die aus Prinzip 1 folgt, damit von einem Rhizom gesprochen werden kann. Diese Vorgaenge koennen auf verschiedene Weise realisiert werden, beispielsweise durch Treffen oder ueber das Internet. Letzteres bietet den Vorteil, dass relativ schnell ueber Newsgroups, E-Mail und Mailinglisten Infos verbreitet werden koennen. Auch Diskussionen und Entscheidungsfindungen sind ueber das Internet moeglich. In sozialen Rhizomen, die eine weltweite Ausdehnung haben (wie z.B. Peoples? Global Action oder die Solidaritaetsbewegung mit den Zapatistas), koennen Face-to-Face-Meetings nur aeusserst selten stattfinden. Computer Mediated Communication (CMC) ist daher eine Moeglichkeit, um globale Widerstandsnetzwerke zu organisieren. Dabei koennen sich neue soziale Bewegungen den antihierarchischen und dezentralen Charakter des Netzes, seine Schnelligkeit, Interaktivitaet und die Moeglichkeit zur polydirektionalen Kommunikation zu Nutze machen. Und dies ist moeglich, obwohl es sich beim Internet auf Grund der Ungleichheiten und virtuellen Segmentierungen, die sich darin reproduzieren, um kein Rhizom handelt. Natuerlich kann argumentiert werden, dass auf Grund der mangelnden Partizipationschancen im Internet soziale Bewegungen, die keinen Zugang haben, von emanzipatorischen rhizomatischen Netzwerken ausgeschlossen bleiben. Dieses Problem laesst sich moeglicherweise ueber einen Finanzpool loesen, in den die TeilnehmerInnen eines solchen rhizomatischen Netzwerkes freiwillig nach Belieben einzahlen, um die notwendige technische Infrastruktur zu finanzieren. Weiters kann technisches Equipment, dass von sozialen Bewegungen in einem Rhizom nicht mehr benoetigt wird, an andere Organisationen, die sich im selben Netzwerk befinden, weitergegeben werden.

3.  Prinzip der Vielheit:
Wesentlich im Rhizom sind nicht die Punkte, sondern die Linien, die sie verbinden. ?Vielheiten werden durch das Aussen definiert: durch die abstrakte Linie, die Flucht- oder Deterritorialisierungslinie, auf der sie sich veraendern, indem sie sich mit anderen verbinden. Der
Konsistenzplan (Raster) ist das Aussen aller Vielheiten" (ebd., S. 15).
Deleuze und Guattari unterscheiden drei Formen von Linien: Linien molarer Segmentaritaet, Linien molekularer Segmentierung und abstrakte Fluchtlinien. Die erste Form der Linie schafft Segmentaritaeten, sich bipolar gegenueberstehende Milieus (das sind widerspruechliche Verhaeltnisse/Spaltungen zwischen z.B. Reich/Arm, Nord/Sued, Zentrum/Peripherie, Kapital/Lohnarbeit, Mann/Frau, InlaenderIn/AuslaenderIn, Heterosexuelle/Homosexuelle, Arbeitende/Arbeitslose, Weiss/Schwarz, Erwachsen/Jung, UmweltzerstoererIn/ UmweltschuetzerIn, MilitaristInnen/PazifistInnen (entspricht Krieg/Frieden), RassistIn/AntirassistIn, KapitalistIn/AntikapitalistIn, zwischen Menschen, die als duenn, schoen, ?normal" oder intelligent gelten einerseits und solchen, die als dick, haesslich, ?abnormal" oder dumm gelten andererseits usw.). Die Milieus werden quasi binaer codiert. Die Fluchtlinie fuehrt zu einem Ende der Segmentaritaeten. Die molaren Linien schaffen die grossen gesellschaftlichen Bipolaritaeten, benoetigen jedoch auch Linien, die auf einer mikroskopischen, persoenlichen Ebene arbeiten. Dies sind die molekularen Linien. Fluchtlinien sind also ein wesentliches Moment eines Rhizoms. Sie sind jene Teile des Rhizoms, die die molaren/segmentarisierenden Linien aufbrechen wollen. Nichtsdestotrotz besteht die Gefahr, dass die alten oder neue Segmentaritaeten festgeschrieben werden. Jede soziale Bewegung, die Teil eines emanzipatorischen sozialen Netzwerks ist, kann als Plateau angesehen werden. Plateaus sind die Elemente eines Rhizoms und werden ueber Linien verbunden. Bei den Linien, also den Verbindungen zwischen Elementen, handelt es sich um kommunikative Linien, die ueber Medien wie die Sprache oder das Internet vermittelt werden koennen. Die einzelnen Plateaus verfolgen Fluchtlinien, um bestehende Segmentaritaeten in der Gesellschaft aufzuheben. Es besteht dabei immer die Gefahr, dass die eigene Bewegung zerschlagen wird oder nicht mehr laenger aufrechtzuerhalten ist. Damit droht eine Reterritorialisierung, eine Verhaertung der bestehenden Linien. Die Aufhebungsbewegung, die sich gegen eine molare Linie richtet, wird dadurch geschwaecht. Rhizomatische soziale Netzwerke koennen sich um einzelne oder mehrere Fluchtlinien gruppieren. Eine gemeinsame Flucht bedeutet ein staerkeres Widerstandspotential. Eine Zerstoerung oder Reterritorialisierung durch Kraefte, die in Opposition zu jenen Zielen stehen, die das Rhizom verfolgt, wird so erschwert.

4.  Prinzip des asignifikanten Bruchs:
Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle zerstoert werden, es wuchert entlang seiner eigenen oder entlang anderer Linien weiter. Zur Zerstoerung von Teilen eines sozialen Widerstandsnetzwerkes kann es kommen, wenn einzelne soziale Bewegungen mit der Politik, die das Rhizom macht, unzufrieden sind und daher aussteigen oder wenn ein Element zerstoert oder aufgeloest wird. Das Prinzip der Konnexion (siehe oben unter 1.) sollte dafuer sorgen, dass saemtliche Teile des Rhizoms an Entscheidungsfindungen im gleichen Ausmass partizipieren koennen, indem inklusive soziale Informationen durch Kooperation hervorgebracht werden. Dies sollte eine wesentliche Bedingung fuer die Zufriedenheit aller mit der politischen Arbeit im und des Rhizoms sein. Nichtsdestotrotz kann es vorkommen, dass Teile unzufrieden sind und aussteigen. Das Rhizom wird dadurch evtl. geschwaecht, es kann aber in den meisten Faellen weiter existieren. Tatsaechlich ist ein permanentes Kommen und Gehen, eine Vergroesserung und Verkleinerung der Rhizomstruktur, moeglich, indem zusaetzliche soziale Bewegungen sich dem Netzwerk anschliessen oder Elemente aus dem Netzwerk ausscheiden. Emanzipatorische soziale Rhizome koennen auch einen temporaer beschraenkten Charakter haben. Wird ein gewisses Ziel erreicht bzw. nicht erreicht oder ist ein bestimmtes Ereignis eingetreten, so loest es sich wieder auf. Solche Rhizome organisieren z.B. Demonstrationen oder Veranstaltungen. Loest sich das Rhizom auf, so muss dies nicht notwendigerweise eine Reterritorialisierung durch unterdrueckende Kraefte bedeuten, sondern neue Rhizome koennen aus dem alten hervorgehen und spontan auftreten. Eine temporaere Beschraenktheit der Existenz von Rhizomen macht eine Unterwanderung und Zerstoerung durch feindlich gesinnte Kraefte tatsaechlich schwieriger.

5. + 6. Prinzip der Kartographie und Prinzip der Dekalkomonie (=Verfahren, Abziehbilder herzustellen): Ein Rhizom ist eine Karte und keine Kopie. Eine Kopie wie ein Baum ist hierarchisch aufgebaut, eine Strukturform setzt sich immer weiter fort (z.B. wenn jedes Element genau zwei Nachfolger hat), sie wird quasi kopiert. Eine Karte hingegen hat keinen hierarchischen Aufbau, sie hat im Gegensatz zur Kopie viele Eingaenge, eine Kopie laeuft immer ?auf das Gleiche" hinaus. Das Rhizom negiert also quasi die Reduktion auf einfache Teile. Es kann versucht werden, Kopien einer Karte herzustellen. Diese sind jedoch keine genauen Reproduktionen, sondern Verfaelschungen. In einer Karte verlaeuft der Informationsfluss antihierarchisch. Eine notwendige Bedingung des antihierarchischen und dezentralen Charakters eines sozialen Netzwerkes (siehe Prinzip 1), das sich aus sozialen Bewegungen zusammensetzt, ist sein emanzipatorischer Charakters in der Form inklusiver sozialer Informationen. Will sich eine neue Person oder soziale Bewegung dem Netzwerk anschliessen, so kann sie sich potentiell an jedes einzelne Plateau wenden. Es gibt keine zentrale Befehlsgewalt, die alleine ueber eine neue Aufnahmen entscheiden kann. Erfolgt die Kommunikation ueber das Internet, so ist eine derartige dezentrale Kontaktaufnahme umso einfacher. Wenn nicht, so muss sich das potentiell neue Plateau im Rhizom in den meisten Faellen an eine Bewegung wenden, die sich in oertlicher Naehe befindet. Dezentrale Kommunikationsformen koennen hingegen mehrere Eingaenge zur Verfuegung stellen. Nochmals erwaehnt werden soll, dass das Internet selbst kein Rhizom ist, dass es aber ein Medium ist, dass dazu beitragen kann, dass Dezentralitaet und Enthierarchisiertheit in einem emanzipatorischen, rhizomatischen sozialen Netzwerk hergestellt und aufrechterhalten werden, indem seine positiven Eigenschaften genutzt werden. Dies ist trotz virtuellen Segmentaritaeten moeglich. Das Rhizom selbst hat aber einen sozialen Charakter und keinen technischen. Es handelt sich um die permanente Herstellung sozialer Beziehungen, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Das Internet als technische Ebene kann dabei einen Vermittlungscharakter einnehmen. Es ist nicht automatisch ein Medium emanzipatorischer Vernetzung, kann aber zu einem solchen gemacht werden.

Es kann nicht nur wechselseitige Verstaerkungsprozesse, also Rueckkopplungen, zwischen rhizomatischen sozialen Bewegungen geben, sondern auch zwischen Rhizomen. Ein Rhizom wird dabei zum Plateau, dem Element eines Rhizoms. Rhizome interagieren dann so miteinander und verstaerken sich derart, dass ein neues Rhizom emergiert, ein Meta-Rhizom. Rhizome in einem Rhizom, Rhizome in einem Rhizom von Rhizomen, usw., ein selbstaehnlicher Charakter einer solchen Struktur ist moeglich. Real waeren dies komplexe Netzwerke von sozialen Bewegungen, die sich nicht nur auf einzelne Linien beschraenken, sondern sich auf eine Fuelle gesellschaftlicher Linien und die dadurch definierten bipolaren Verhaeltnisse und Segmentaritaeten beziehen. In einer derartigen Struktur besteht eine Menge subversiver Fluchtlinien, die zur Emergenz einer qualitativ neuen Fluchtlinie aus dem Kapitalismus fuehren koennen. Diese bezieht sich dann nicht auf Einzelfragen, sondern koennte eine Aufhebungsbewegung der bestehenden gesellschaftlichen Verhaeltnisse bedeuten. Dazu waere jedoch ein emantizipatorischer Charakter eines solchen Meta-Rhizoms noetig. Dieser ist jedoch bei vielen sozialen Bewegungen nicht automatisch gegeben, da die oekonomischen Wurzeln gesellschaftlicher Probleme nicht adaequat erfasst werden, woraus sich eine Institutionalisierung oder die Verfolgung reformistischer und auf Einzelfragen beschraenkter Ziele ergibt. Eine solche Konzentration auf Einzelfragen steht aber der Emergenz einer Fluchtlinie aus dem Kapitalismus und Neoliberalismus entgegen, da dazu eine umfassende Perspektive notwendig waere, die vermittelt, dass weltweit Menschen durch Kapitalismus, Neoliberalismus und Globalisierung segmentarisiert werden und dass sie daher zusammenarbeiten koennten. Ein emanzipatorisches Subjekt hat ein Bewusstsein, das ueber den Kapitalismus hinausweist. Es erkennt, dass diese Gesellschaftsformation eine wesentliche Ursache der bestehenden globalen Probleme ist. Und genau dieses Bewusstsein fehlt vielen sozialen Bewegungen, damit sie als emanzipatorisch bezeichnet werden koennen. Die Moeglichkeit einer intellektuellen Avantgarde kann daher in Betracht gezogen werden, die Aufklaerungsarbeit ueber die Moeglichkeit von Alternativen zum Kapitalismus leistet, um die Bildung von emanzipatorischen Rhizomen und Meta-Rhizomen zu triggern und um potentiell emanzipatorische Subjekte zu tatsaechlich emanzipatorischen Subjekten zu machen, die ihre Probleme als jene anderer und diejenigen anderer als ihre eigenen begreifen. Mit einer intellektuellen Avantgarde ist dabei nicht eine Fuehrungsbewegung im Sinne marxistisch-leninistischer Parteien gemeint, sondern Menschen, die durch alternative Sozialisierung und Zugaenge eine antikapitalistische Position bekommen haben und daher anderen die Moeglichkeit einer postkapitalistischen Gesellschaftsformation vermitteln wollen, ohne einen Fuehrungs- oder Herrschaftsanspruch geltend zu machen. Die intellektuelle Avantgarde fuehrt somit eine Veraenderung der Gesellschaft nicht an, sondern gibt nur den Anstoss dazu. Vernetzte, emanzipatorische soziale Bewegungen muessen nicht homogene Interessen haben und auf eine Homogenisierung ihrer Politik abzielen, um eine gemeinsame politische Perspektive zu erlangen. Sie muessen auch nicht auf ein Zulassen aller moeglichen politischen Richtungen - ein anything goes - innerhalb ihres rhizomatischen Netzwerkes hinarbeiten. Vielmehr koennen sie eine dialektische Einheit in der Vielfalt betreiben, d.h. dass sie einerseits die Unterschiede in ihren politischen Herangehensweisen und Vorstellungen sowie in der Auspraegung in ihren spezifischen lokalen und regionalen politischen Situation betonen koennen und andererseits aber nichtsdestotrotz gleichzeitig eine gemeinsame Perspektive entwickeln koennen, indem sie das Verbindende betonen, herausarbeiten und als ein Leitbild der politischen Praxis verwenden. Eine solche Herangehensweise ist auch das Muster der dialektischen Form der kulturellen Globalisierung, die sich von reduktionistischen, projektionistischen und dualistischen Arten unterscheiden laesst. Die Kulturwissenschaftler Steven Best und Douglas Kellner (1997) sehen eine solche politische Position als Synthese von moderner und postmoderner Politik. Es sei eine Einheit von Herangehensweisen der ?modernen Politik" wie die Betonung von Solidaritaet, Allianzen, Konsens, universellen Rechten und einer Makropolitik sowie von Herangehensweisen der ?postmodernen Politik" wie die Betonung von Differenz, Pluralitaet, Multiperspektivitaet, Identitaet und einer Mikropolitik notwendig. Eine solche Dialektik von Moderne und Postmoderne koenne bei der Loesung der grossen politischen Probleme fruchtbar sein.

Zusammenfassend: Jedes politische System entwickelt im Lauf seiner historischen Weiterentwicklung eine globale Dimension. Die spezifische Auspraegung dieser Globalitaet ist im Kapitalismus durch politische Antagonismen (globale Konflikte, Klassenkampf, Klassenfraktionen) gepraegt. Die politische Globalisierung kann im Sinn von Deleuze und Guattari aber auch als die Emergenz emanzipatorischer sozialer Netzwerke verstanden werden, deren Teile gegen die prekaeren Lebensverhaeltnisse im Zeitalter des Postfordismus und des Neoliberalismus gemeinsam alternative gesellschaftliche Perspektiven entwickeln und in der Praxis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen umsetzen. So koennte eine Aufhebungsbewegung der bestehenden Verhaeltnisse entstehen, deren Dialektik darin besteht, dass sie sich durch eine Unzahl antagonistischer Verhaeltnisse auszeichnen. Technische Globalisierung kann als vereinfachendes Medium einer solchen rhizomatischen Vernetzung betrachtet werden. Eine dialektische Form emanzipatorischer Politik koennte den Charakter der Einheit in der Vielfalt annehmen.

Beck, Ulrich (1997) Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus - Antworten auf Globalisierung. Frankfurt/Main. Suhrkamp

Best, Steven/Kellner, Douglas (1997) The Postmodern Turn. New York/London. Guilford Press

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977) Rhizom. Berlin. Merve

Fuchs, Christian (2000b) Selbstorganisation in der Informationsgesellschaft. Wien. TU Wien. Online unter: http://stud4.tuwien.ac.at/~e9426503

Hegedus, Szusza (1990) Social Movements and Social Change in Self-Creative Society. New Civil Initiatives in the International Arena. In: Albrow, Martin/King, Elizabeth (Hrsg.) (1990) Globalization, Knowledge and Society. Readings from International Sociology. London. Sage. S. 263-279

Koessler, Reinhard/Melber, Henning (1993) Chancen internationaler Zivilgesellschaft. Frankfurt/Main. Suhrkamp

Mohl, Alexa (1992) Die neuen sozialen Bewegungen. Eine Formanalyse ihre emanzipatorischen Praxis. Frankfurt am Main/New York. Campus
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