[ox] Replik auf Ralf Kraemer Teil 2
- From: "rhizom 00" <rhizom00 hotmail.com>
- Date: Wed, 15 Nov 2000 19:17:44 CET
Die Mail vorher war Teil 1
CF
Vielleicht kann gesagt werden, dass aus unproduktiver Arbeit heute
tendenziell produktive wird. Gesang, Schauspiel, Musik waren frueher
unproduktive Taetigkeiten, durch Hinzukommen eines Traegermediums entstehen
CD, LP, Video, Kassette etc. Und daher sind diese Arbeiten produktiv
geworden. Gehe ich in ein Restaurant, so bezahle ich mit Revenue fuer eine
unproduktive Arbeit. Durch Tiefkuehlung etc. wird das Resultat
gastronomischer Taetigkeiten am Markt tauschfaehig. Die dahintersteckende
Arbeit wurde produktiv. Andererseits wird aber durch die
Produktivkraftentwicklung auch immer mehr lebendige durch tote Arbeit
ersetzt, variables Kapital durch konstantes, die wertschaffende Arbeit wird
dadurch quantitativ reduziert. Schon Marx hatte darauf hingewiesen, dass
darum wiederum die unproduktive Arbeit ansteigt: »Endlich erlaubt die
ausserordentlich erhoehte Produktivkraft in den Sphaeren der grossen
Industrie, begleitet, wie sie ist, von intensiv und extensiv gesteigerter
Ausbeutung der Arbeitskraft in allen uebrigen Produktionssphaeren, einen
stets groessren Teil der Arbeiterklasse unproduktiv zu werden und so
namentlich die alten Haussklaven unter dem Namen der ?dienenden Klasse?, wie
Bediente, Maegde, Lakaien usw., stets massenhafter zu reproduzieren« (MEW
23, S. 469). Welche Tendenz nun staerker ist, waere zu untersuchen.
Du erfasst den TFPR nur als langfristige Tendenz. Ok, das ist er einerseits,
da es einen Widerspruch zwischen lebendiger und vergegenstaendlichter Arbeit
gibt: Basis der Mehrwertproduktion ist die lebendige Arbeit. Durch die
Produktivkraftentwicklung wird sie aber immer mehr durch
vergegenstaendlichte Arbeit (Produktionsmittel) ersetzt. Der pro Arbeitstag
erzielbare Zuwachs an Mehrwert steigt also dadurch in abnehmender
Progression. Langfristig kann dadurch die Wachstumsrate der Mehrwertrate
nicht groesser sein als jene der organischen Zusammensetzung. Die Zersetzung
der Basis der Wertproduktion durch die Produktivkraftentwicklung der
lebendigen Arbeit ist dabei von entscheidender Bedeutung.
Vergegenstaendlichte Arbeit ersetzt lebendige und damit die Basis des Werts.
Im Lauf der kapitalistischen Entwicklung steigt die tote Arbeit im
Verhaeltnis zur lebendigen. Dies ist eine langfristige Tendenz, die sich
gerade auch in der heutigen Phase des Kapitalismus aeussert. Marx brachte
diesen Widerspruch in den Grundrissen auf den Punkt: »Das Kapital ist selbst
der prozessierende Widerspruch dadurch, dass es die Arbeitszeit auf ein
Minimum zu reduzieren strebt, waehrend es andrerseits die Arbeitszeit als
einziges Mass und Quelle des Reichtums setzt« (Grundrisse, S. 601).
Kurz und Co. sehen nun auf Grund dieses Widerspruchs den Zusammenbruch des
Kapitalismus herannahen. Das Denke ich allerdings nicht. Klar ist aber, dass
es zyklische Krisen gibt. Diese haben vielfaeltige Ursachen und eine davon
ist sehr wohl der TFPR. Allerdings nicht die einzig moegliche, das waere ein
zu mechanistisches Denken. Wesentlich ist, dass jede Krise des Kapitalismus
die AEusserung einer Zusammenbruchs-TENDENZ ist. Nun gibt es aber
entgegenwirkende Ursachen, die diese TENDENZ wiederum stoppen koennen. Im
Postfordismus sind dies z.B. politische Massnahmen, die zum Neoliberalismus
und einem neuen Schub der oekonomischen Globalisierung fuehren (nationaler
Wettbewerbsstaat, Deregulierung etc.). Ich denke nicht, dass ein rein
oekonomischer Zusammenbruch des Kapitalismus realistisch ist, sondern dass
dazu auch ein politisch-revolutionaere Komponente notwendig ist. Quasi
besteht eine Dialektik von oekonomischen Strukturen und gesellschaftlichem
Handeln. Das heisst nicht eine moderne Form der »Verelendung« als Basis
einer Revolution, sondern gesellschaftliche Krisensituationen (nicht nur
oekonomisch, auch politisch, oekologisch, sozial etc.) als
Bifurkationspunkte, in denen die weitere gesellschaftliche Entwicklung durch
aktives Handeln entschieden wird und nicht determiniert ist. Diese Krisen
sind aber wiederum nicht die einzigen Ausgangspunkte fuer Veraenderung.
Emanzipatorisches Handeln kann auch relativ spontan einsetzen. Heute haben
wir offensichtlich eine gesellschaftliche Krise (oekonomisch, politisch,
sozial, oekologisch) und sind in so einem Bifurkationspunkt angelangt.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Durchschnittsprofitrate abhaengig von der
organischen Zusammensetzung des Kapitals und von der Mehrwertrate ist, so
gibt es mehrere Moeglichkeiten, die mittelfristig zu einem Fall der
Profitrate fuehren koennen:
*Die Produktivkraftentwicklung verlangsamt sich, da eine Saettigung der
Nachfrage nach neuen Produktionsmitteln eintritt. Die Zuwaechse der
Produktivitaet werden dadurch vermindert. Der Anstieg der Rate des Mehrwerts
verlangsamt sich.
*Der konstante Kapitalanteil und damit die organische Zusammensetzung des
Kapitals steigt ueberproportional an (z.B. durch hohe Material- und
Instandhaltungskosten).
*die Nachfrage nach Konsumtionsmitteln erreicht eine Saettigung. Der
realisierte Mehrwert sinkt dadurch. Dies wirkt negativ auf die Rate des
Mehrwerts.
*Die Entwicklung der Produktivkraefte fuehrt zur Freisetzung von
Arbeitenden. Dieser Anstieg der Arbeitslosigkeit vernichtet Kaufkraft, aus
KaeuferInnen werden NichtkaeuferInnen. Dies wirkt negativ auf den
realisierten Mehrwert und damit auch auf die Mehrwertrate.
*die politische Ebene wirkt zurueck auf die oekonomische und verursacht
einen ueberproportionalen Anstieg der Investitionskosten (c und v). Dies
kann z.B. durch Klassenkaempfe verursacht werden. Dadurch verlangsamt sich
das Wachstum der Mehrwertrate und es beschleunigt sich jenes der organischen
Zusammensetzung.
*oder der Widerspruch von toter und lebendiger Arbeit (siehe oben) kommt
durch einen Schub an Automation oder Rationalisierung zum Ausdruck
Wie gesagt: TFPR als eine moegliche Ursache einer oekonomischen Krise.
Sicher nie die einzig moegliche, denn es gibt viele Widersprueche in der
kapitalistischen Gesellschaftsformation. Problematisch ist immer eine
reduktionistische Herangehensweise, da der Kapitalismus aeusserst komplex
ist. Eine gesellschaftliche Krise kann genauso gut z.B. einen politischen
Ausgangspunkt haben, der auch auf den oekonomischen Bereich rueckwirken
kann. Zum Glueck erkennen heute immer mehr TheoretikerInnen die Bedeutung
des Verhaeltnisses der gesellschaftlichen Subsysteme zueinander und
versuchen, nichtreduktionistische und nichtoekonomistische Analysen und
Kritiken des Kapitalismus zu schaffen.
Der TFPR ist nicht die eine Erklaerung der zyklischen Krisen fuer mich, wie
du zu meinen scheinst. Es gibt eben viele. Aber es ist auch nicht so, dass
er keine Bedeutung fuer zyklische Krisen hat. Zusammenbruch ist kein
Automatismus, sondern ein politisch zu erreichendes Ziel. Zumindest
ausserhalb der Sozialdemokratie bei ein paar Leuten heute noch. Den TFPR
fuer voellig unbedeutend zu erklaeren, heisst eigentlich, die marxistische
Krisentheorie auf den Muellhaufen der Geschichte zu schmeissen und den
Kapitalismus als den historischen Sieger, das Ende der Geschichte, zu
betrachten. Da wird dann auch schnell argumentiert, dass es Ziel sei, den
Kapitalismus durch den Staat zu »zivilisieren« oder zu humanisieren. Aber
das schliesst sich eben aus. Humanismus gibt es im Kapitalismus nicht,
sondern Basis von erstem waere die Aufhebung des zweiten (und eben wieder
kein Automatismus). Eine Stabilisierung des Kapitalismus ist unmoeglich, da
diese Gesellschaftsformation strukturell oekonomisch, politisch, oekologisch
etc. krisenhaft ist. Das muesste jeder Reformismus heute nach Scheitern des
Keynesianismus eigentlich begriffen haben. Auch ein Neokeynesianismus
(sollte es ihn jemals geben) wird diese Krisenhaftigkeit nicht beseitigen.
Den Kapitalismus nicht als gesellschaftliche Totalitaet in OEkonomie,
Politik und Kultur zu begreifen und vor allem nicht zu kritisieren, bedeutet
jedoch, mit dem Leben von Menschen zu spielen. Und das ist bei den
Sozialdemokraten Europas und bei anderen heute eben der Fall.
»Der Staat ist und bleibt entscheidende Mittel der Umsetzung linker Politik«
(Kraemer, Strategische Differenz: Die Bedeutung des Staates fuer linke
Politik, SPW 6/95) - da gibt es eben auch zulaessige und zu akzeptierende
Auffassungsunterschiede. Der Staat ist und bleibt entscheidendes Mittel der
Umsetzung des Interesses des Kapitals. Denn die Formbestimmung des
kapitalistischen Staates besteht aus:
* Organisation der Infrastruktur und der Rahmenbedingungen der
Kapitalakkumulation sowie der kapitalistischen Produktion und Reproduktion
(Forschung, Bildung, Wissenschaft, Garantie der Rechtsverhaeltnisse,
Gesundheitswesen, Verkehr, Erhaltung der ArbeiterInnenklasse als
Ausbeutungsobjekt des Kapitals, Garantie der Verfuegbarkeit von Lohnarbeit
fuer das Kapital, Subventionspolitik, Finanz- und Kreditwesen,
Steuerpolitik, Stadtsanierung, Umweltschutz, Raumordnung, Reproduktion der
Arbeitenden usw.).
* Repressive Absicherung des Kapitalverhaeltnisses durch Gesetzgebung,
Justiz, Polizei und Militaer und das staatliche Gewaltmonopol: der Staat
dient also der repressiven und gewaltsamen Niederhaltung des Proletariats,
wenn es die Grundlagen seiner Ausbeutung angreift
* Organisation von Gegentendenzen zum tendenziellen Fall der Profitraten und
der krisenhaften ZusammenbruchsTENDENZEN des Kapitalismus
* Herstellung der Einheit der Fraktionen des Kapitals: Klassen stellen keine
homogenen Einheiten darstellen, sondern sind intern fraktioniert (siehe
Poulantzas, Staatstheorie, 1978). Der Staat haelt die kapitalistische
Gesellschaftsform zusammen, er ist ein Kohaesionsfaktor, der die Einheit der
fraktionierten Bourgeoisie organisiert. Er organisiert den Block an der
Macht. Als eine Aufgabe des Staates kann die Formulierung eines
kapitalistischen Gesamtinteresses angesehen werden, das die zersplitterten
und konkurrierenden Kapitalfraktionen eint.
* Befriedung der ArbeiterInnenklasse: um nicht gewalttaetig die
Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung durchsetzen zu muessen,
agiert der Staat ideologisch als massenintegrativer Apparat. Eine
wesentliche Rolle dabei spielt die Regulation des Klassenverhaeltnisses
durch Instrumente wie Sozialpartnerschaften, Zugestaendnisse an die
ArbeiterInneklasse und die Gewerkschaften und der klassenneutrale Schein des
Staates. Die ideologische Funktion des Staates besteht in dem Versuch, einen
Konsens von Beherrschten und Herrschenden herzustellen.
»Um den Staat kaempfen!« (Kraemer). Nein: Gegen den Kapitalismus und den
damit integral verkoppelten Staat kaempfen. Eine »Rueckeroberung des Staates
fuer fortschrittliche Politik« kann es nicht geben, denn dieser Staat und
dieser Kapitalismus waren auch im Keynesianismus nicht fortschrittlich. Denn
Keynesianismus bedeutete nichts anderes, als verstaerkte Mithilfe des
Staates bei der Erhaltung des Ausbeutungsmaterials und der
Kapitalakkumulation durch Sozialstaat und Foerderung von Massenproduktion
und Massenkonsum. Nur beschraenkt Ergebnis des Kampfs der Arbeiterklasse,
vor allem aber eine ideologische Finte und ein Zugestaendnis des Kapitals.
Keynesianismus als klassenneutraler Schein des Staats.
Neokeynesianistischer Versuch der Stabilisierung des Kapitalismus, Absage an
die Krisentheorie, Durchsetzung eines neuen Regulationsmodells (wie bei
Hirsch, Lipietz, Altvater etc.) sind fuer mich nicht der richtige Weg. Aber
das ist eben alles miteinander verschraenkt. Daher hier die Kritik am linken
sozialdemokratischen Reformismus. Natuerlich hat der seine Legitimitaet
innerhalb der Linken wie anderes aus. Aber meine Alternative ist die
Fundamentalkritik. Ziel kann nur ein Leben ohne Tausch, Lohnarbeit, Kapital,
Herrschaft, Staat, Konkurrenz, Ware, allgemeinem AEquivalent, etc. sein. Und
das unmittelbar. Geschichte ist heute nicht am Ende, erst dann beginnt die
Geschichte.
Kritik stimuliert das eigene Denken. So auch hier. Kritik und Diskurs sind
noetig, um Klarheit ueber die eigenen Positionen zu erlangen. Daher auf alle
Faelle Danke fuer deine Kritik. Angebrachter finde ich es aber wie gesagt,
nicht alles, was nicht der eigenen Meinung entspricht und trotzdem links
ist, als »Unfug« abzutun, sondern die Existenz verschiedener linker Ansaetze
zu respektieren. Ich respektiere die Existenz deines, auch wenn ich ihn
nicht teile, kritisiere du meinen, aber mit Respekt. »Schief und theoretisch
fehlerhaft« koennte etwas nur dann sein, wenn es eine wahre Theorie oder
Interpretation gibt. Die gibt es aber nicht. Oder dann, wenn die
theoretischen Annahmen des/r Autors/Autorin nicht konsistent sind. Aber um
das beurteilen zu koennen, darf man halt nicht einen kleinen Teil aus einem
umfassenden Ganzen herausreissen.
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