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[ox] Kurz - Letzte Gefechte 2. Teil



http://www.giga.or.at/others/krisis/r-kurz_die-letzten-gefechte_krisis18_
1996.html


************************* Fortsetung Kurz 2. Teil **************************

Was das bedeutet, lässt  sich im Vergleich mit der Auseinandersetzung in 
Frankreich verdeutlichen. Die Zwickel-Initiative kommt der Position von Alain 
Touraine nahe, freilich mit dem Unterschied, dass es sich hier nicht um eine 
bloß publizistische Äußerung von Intellektuellen, sondern um eine 
institutionelle Wende handelt. Die Position von Bourdieu dagegen kann als eine 
noch-keynesianische verstanden werden. Das macht auch die Berufung auf die 
nationalökonomische Kohärenz aus. Denn schon Keynes war sehr deutlich bewusst, 
dass  seine Theorie von staatlicher Regulation und Intervention nur auf dem 
Boden einer kohärenten nationalökonomischen Basis möglich sein konnte; er 
warnte daher sogar vor einer zu starken Ausdehnung des Weltmarkts. 
Keynesianismus, Nationalökonomie und Sozialnationalismus gehören logisch 
zusammen. Freilich ist auch der implizite sozialnationale Keynesianismus der 
Bourdieu-Richtung kein Reformkeynesianismus "für alle" mehr, sondern bloß noch 
ein defensiver Status-quo-Keynesianismus sozialnationaler Schadensbegrenzung, 
der keine Veränderungsperspektive mehr hat und die bereits Herausgefallenen 
nicht mehr integrieren kann. 

Der gewerkschaftliche Übergang zur neoliberalen Angebotspolitik bedeutet aber 
weit mehr als die bloß ideologische Akzeptanz der Marktwirtschaft. Er 
beinhaltet vielmehr die Akzeptanz, dass alle soziale Reproduktion, die nicht 
"regulär" marktwirtschaftlich unter den neuen Bedingungen der Globalisierung 
rentabel  "erwirtschaftet" werden kann, schlicht entfallen muss. Obwohl der 
Terminus "Bündnis für Arbeit" zumal in Deutschland stark nationalistische 
Untertöne hat (er erinnert fast zwangsläufig an die nationalsozialistische 
"Arbeitsfront" und "Volksgemeinschaft"), wie ja auch der französische 
Touraine-Appell nationalistisch unterlegt ist, so kündigt die darin enthaltene 
Preisgabe von Keynesianismus und Nachfragepolitik doch implizit die 
Geschäftsgrundlage des bisherigen Sozialnationalismus auf.

Der neue monetaristische, angebotspolitische Sozialnationalismus im Zeichen 
kapitalistischer Globalisierung ist eigentlich schon keiner mehr oder er ist 
eher ein Zweiklassen-Nationalismus. Nicht mehr nur die Verliererländer 
"draußen", sondern auch die sozialen Verlierermassen "drinnen" sollen auf das 
Niveau einer marktwirtschaftlichen Hungerlohn-Realität heruntergedrückt 
werden. Das Einschwenken auf die Kostensenkungs- und Export-Ideologie läuft 
darauf hinaus, einen rein marktwirtschaftlichen und global konkurrenzfähigen 
Erste-Klasse-Salonwagen für minoritäre Kernbelegschaften und daran angehängt 
die Viehwaggons mit Billiglohn-Zwangsarbeit für die Verlierer auf die Reise 
schicken zu wollen. Mit dazu passender neoliberaler Frechheit beeilen sich 
die Zwickelisten, diese Horror-Perspektive als "Standortsicherung" und 
"Integration der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt" zu verkaufen, während der 
bloße Gedanke an soziale Kämpfe selbst im beschränkten keynesianischen Sinne 
als angebliches Schreckensbild "französischer Zustände" denunziert wird. 

Was für den Sozialabfall des kapitalistisch nicht mehr brauchbaren 
Menschenmaterials dann noch übrigbleibt, gibt Klaus Lang, persönlicher  
Referent des IGM-Chefs Zwickel, mit dem diskreten Charme des ultramodernen 
Sozialtechnikers zum besten, wenn er sich in einer Zwischenbilanz über das 
"Bündnis für Arbeit" in sozialdiplomatischen Verrenkungen übt: "Und bei der 
Arbeitslosenhilfe? Hier ist die geplante Absenkung der Bemessungsgrundlage für 
die individuelle Arbeitslosenhilfe von fünf auf drei Prozent zurückgenommen 
worden. Der Regierungsentwurf, der eine Absenkung um fünf Prozent vorsah, war 
längst vor der Bündnisinitiative beschlossen worden. Wo wäre ohne diese 
Initiative für die Regierungskoalition der öffentliche Druck entstanden, ihre 
Absicht nicht voll durchzuziehen? (!) Sicher auch kein berauschender Erfolg, 
aber ein kleiner Schritt..." (in: Frankfurter Rundschau, 14.2.96). Ein 
derartiger Hohn auf gewerkschaftliche Konfliktfähigkeit, der auch noch den 
Grad der Leistungskürzung für die Ärmsten als Meßlatte des "Erfolgs" anlegt, 
ist sogar in der deutschen Sozialgeschichte selten. Die Arbeitslosen werden 
einsehen müssen, dass sie wahrscheinlich bei der Caritas noch besser 
aufgehoben sind als bei den Gewerkschaften. 

Dass die "Integration in den Arbeitsmarkt" (egal um welchen Preis) zum 
höchsten aller Ziele verklärt wird, als könnten sich die Menschen nichts 
Besseres mehr wünschen, das ist natürlich schon eine Spekulation mit dem 
erbärmlich gewordenen Massenbewusstsein. Sicherlich ist es auch eine Reaktion 
auf das tatsächliche Obsoletwerden des Keynesianismus. Denn die Politik des 
Deficit spending ist ja tatsächlich gescheitert, und ihre Gratifikationen 
waren ja auch nie mehr als der sozialnationalistische Bonus weniger 
kapitalistischer Kernländer. Insofern ist auch eine Position wie die von 
Bourdieu unhaltbar, der sich "contre la déstruction d'une civilisation" 
wendet und damit nichts als die keynesianische Zivilisation des 
Nachkriegs-"Sozialkapitalismus" meint. Diese keynesianische Zivilisation 
des Wohlfahrtsstaates und des "öffentlichen Dienstes" geht in allen ihren 
Hochburgen zu Ende, in Frankreich und Deutschland ebenso wie in Schweden. 
Das heißt aber nur, daß die  Möglichkeiten einer sozial akzeptablen 
Wirtschaftspolitik innerhalb des Marktsystems überhaupt ausgeschöpft sind. 
Genau das aber wollen die Gewerkschaften mit ihrer angebots- und 
kostensenkungs-politischen Flucht nach vorn nicht wahrhaben.

Die Zwickel-Initiative überholt dabei sogar die programmatische Abrüstung der 
Gewerkschaften, die erst im Herbst 1996 auf dem DGB-Kongreß in Dresden mit 
einem bis zur Schamgrenze reduzierten Keynesianismus abgesegnet werden soll, 
der "auf die Formulierung in sich geschlossener Alternativkonzepte verzichtet" 
(so der 1994 gestorbene frühere DGB-Vorsitzende Meyer in seiner Absage an das 
DGB-Grundsatzprogramm von 1981). Im "Bündnis für Arbeit" ist aber nicht einmal 
mehr die Spur eines Schamkeynesianismus zu entdecken. Von jetzt an kann sich 
der DGB ein Programm und einen Kongreß überhaupt sparen (ein Beitrag zur 
Kostensenkung?).

Auf einem ganz anderen Blatt steht es freilich, ob die kapitalistischen 
Blütenträume der "Modernisierer" für eine Gewerkschaft drastisch reduzierter 
sozialer Repräsentanz auch aufgehen und ob der "Zwickel-Abschlag" 
(gewerkschaftlicher Volksmund) den Einstieg in ein minoritäres 
Globalisierungs-Kartell tatsächlich ermöglicht. In Wirklichkeit ist eine 
neoliberale Gewerkschaftspolitik ein Widerspruch in sich. Das Einschwenken auf 
die Linie von angebotspolitischer Kostensenkung bedeutet die endgültige 
Selbstaufgabe der Gewerkschaften, d.h. der mit der Preisgabe jeder Systemkritik 
bereits eingehandelte Legitimationsverlust wird nun auch praktisch und im 
großen Maßstab ratifiziert. Das suizidale Zwickel-Programm schützt auch die 
Kernbelegschaften nicht, sondern läuft auf eine allgemeine Senkung des Lohn- 
und Sozialniveaus hinaus. Denn es ist eine Illusion, dass die Preisgabe 
tariflicher Löhne und Arbeitsbedingungen auf ein soziales Segment eingegrenzt 
werden könnte. Die Akzeptanz von Einstiegslöhnen unter Tarif ist der Anfang 
vom Ende der Tariflöhne überhaupt. 

Auch im betrieblichen Mikrobereich zeigt sich an konkreten Beispielen schon 
jetzt, dass das "Bündnis für Arbeit" von vornherein auf einem 
Sozialmasochismus der Kernbelegschaften selbst beruht: "Ein eigenes Bündnis 
für Arbeit praktiziert Mercedes-Benz jetzt gemeinsam mit dem Betriebsrat im 
neuen Motorenwerk von Bad Cannstatt. Die Fabrik der Zukunft für 800 Millionen 
Mark arbeitet mit modernster Technik rund um die Uhr, nach Bedarf auch 
samstags. Selbst die sogenannte Steinkühler-Pause von fünf Minuten je 
Arbeitsstunde wollen die 900 Beschäftigten opfern, wenn im September die 
Produktion anläuft. Außerdem unterwerfen sie sich einem neuen Lohnsystem und 
arbeiten in Gruppen nach genauen Vorgaben für Qualität und Produktivität" (Die 
Woche, 12.1.96). Die Hauptvokabeln für die neuen Kernbelegschaften werden nicht 
Komfort und Hochlohn sein, sondern "Opfer" und "Unterwerfung", "Hochleistung" 
bis an die physischen und psychischen Grenzen, individuelles und 
gruppenmässiges Aushandeln ohne Rücksicht auf Schwächere. Das "Privileg" 
individualisierter, "olympiareifer" Hochleistungs- und 
Hochgeschwindigkeits-Arbeiter wird darin bestehen, auf hohem Niveau 
erbarmungslos ausgequetscht zu werden, um mit 40 reif für die Psychiatrie oder 
für die Leichenhalle zu sein. Gewerkschaften sind dabei völlig überflüssig.

Abgesehen von den sozialen Standards und von der weiteren Existenzberechtigung 
der Gewerkschaften steht aber auch die Frage, ob Angebotspolitik und soziale 
Kostensenkung überhaupt als Systemrettungsprojekt durchgehen können (lasst 
euch kollektiv kreuzigen für die Erlösung der Marktwirtschaft). Ein Moment der 
Marxschen Krisentheorie, das auch von Rosa Luxemburg wieder aufgegriffen wurde, 
war ja bekanntlich die strukturelle Unterkonsumtion der Massen als Krisenfaktor 
des Kapitals selbst. Insbesondere seit der fordistischen Ära eines 
flächendeckenden Vollkapitalismus mit hochorganisierter Massenproduktion ist 
die Massenkaufkraft eine conditio sine qua non für eine gelingende Akkumulation 
des Kapitals. Wird die Massenkaufkraft durch Massenarbeitslosigkeit, Abbau der 
Sozialleistungen und Zurückfahren öffentlicher Dienste bzw. staatlicher 
Investitionen radikal abgeschmolzen, dann ist nicht nur die soziale 
Reproduktion, sondern auch die ökonomische Existenz- und Funktionsfähigkeit 
des Kapitalismus selber grundsätzlich in Frage gestellt. Durch die 
betriebswirtschaftliche Globalisierung wird dieses existentielle Problem nicht 
beseitigt, sondern nur selber globalisiert; auf dieser Ebene wird es mit
verstärkter Wucht auf das Kapital zurückschlagen. Insofern ist der 
monetaristische Neoliberalismus schon mittelfristig ein Selbstmordprogramm der 
kapitalistischen Produktionsweise.

Genau dieses Problem bildete ja auch den Kern der Theorie von Keynes und den 
Hintergrund für die Nachfragepolitik des Deficit spending (ursprünglich unter 
dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929-33). Sicherlich war die 
keynesianische Theorie verkürzt, weil sie keine Krisentheorie der 
kapitalistischen Produktionsweise, sondern von vornherein bloß eine seichte 
Systemrettungs-Theorie war. Das gilt auch für den Linkskeynesianismus mit 
zuweilen verschämten Anleihen bei Marx, wie er etwa in der BRD durch die 
sogenannte Memorandum-Gruppe linker Professoren vertreten wurde und lange Zeit 
auch in die gewerkschaftliche Argumentation Eingang fand. Die mangelnde 
Massenkaufkraft wird hier in schönstem Positivismus als isoliertes Phänomen 
betrachtet, das "politischer Regulation" und staatlicher Intervention 
zugänglich sei. Letzten Endes wird an das Kapital appelliert, es möge doch 
Mitleid mit sich selbst haben und die Stärkung der Massenkaufkraft als
Systemnotwendigkeit "politisch" anerkennen. 

Bei Marx dagegen wird die mangelnde Massenkaufkraft nicht als isoliertes, 
tarif- oder staatspolitisch regulierbares Krisenphänomen, sondern als 
strukturelle, objektive innere Schranke des Kapitalverhältnisses analysiert. 
Es handelt sich auch nicht um eine bloß äußere Grenze der "Realisierung" des 
produzierten Mehrwerts auf dem Markt (wie es bei Rosa Luxemburg erscheint), 
sondern um eine mangelnde Produktion von ausreichendem Mehrwert selbst, die 
der Oberflächenerscheinung mangelnder Massenkaufkraft zugrunde liegt. Die 
Fetischform "Wert", die sowohl von der VWL als auch von der Arbeiterbewegung 
positiv genommen wird, hat nichts mit der produzierten stofflichen Gütermenge 
zu tun, sondern allein mit der darin inkorporierten Masse abstrakter 
Arbeitsquanta auf der Höhe des jeweiligen Rentabilitätsstandards. Das Kapital 
tendiert durch die konkurrenzvermittelte Steigerung der Produktivität dazu, 
immer mehr stoffliche Produkte mit immer weniger Arbeit zu erzeugen, während 
sein eigentlicher Zweck gerade die Anhäufung von in Geld inkarnierten 
Arbeitsquanta ist. Es kommt also dazu, dass bei "zu hoher" (vom Standpunkt 
der Verwertung aus) Produktivität das bereits akkumulierte Kapital nicht mehr 
ausreichend rentabel reinvestiert werden kann ("Überakkumulation"). Der 
Rückgang der Massenkaufkraft und der Staatseinnahmen zeigt insofern nur den 
Rückgang der realen Wertproduktion an und ist an sich keinerlei äußerer, 
"politischer" Regulation zugänglich, sondern markiert die Systemgrenze selbst. 
Überakkumulation und Unterkonsumtion sind die beiden Seiten derselben Medaille.

Die Theorie der Überakkumulationskrise wurde schon innerhalb des 
Arbeiterbewegungs-Marxismus (etwa von Paul Mattick) gegen die verkürzte, 
isolierte Unterkonsumtions-Argumentation der Linkskeynesianer zu Recht ins 
Feld geführt. Freilich ließ Mattick zeitbedingt die Frage einer absoluten 
historischen Akkumulationsgrenze noch offen, wie er auch (ebenso zeitbedingt) 
die Frage der Systemaufhebung noch in den alten soziologischen Terms des 
Klassenkampfs formulierte. Tatsächlich konnte in der Vergangenheit die in den 
Krisen aufscheinende Systemgrenze immer wieder hinausgeschoben werden, indem 
neue Felder der Verwertung abstrakter Arbeit auf immer höherem Niveau 
erschlossen wurden; zuletzt bekanntlich im Nachkriegsboom des 
Wirtschaftswunders. Die keynesianische Illusion konnte sich halten, nicht weil 
der Keynesianismus funktionierte, sondern weil die Kapitalakkumulation von 
sich aus genügend reale Wertproduktion abwarf, um das Deficit spending füttern 
zu können (vgl. dazu den Artikel "Die Himmelfahrt des Geldes" in Krisis 16/17). 
Seitdem durch das Ende des Fordismus und durch die mikroelektronische 
Revolution die Krise der realen Wertproduktion auf neuer Stufenleiter 
zurückgekehrt und die Überakkumulation des Kapitals nicht mehr eine bloß 
zyklische, sondern strukturell geworden ist, hat sich auch die Unhaltbarkeit 
eines Programms für die äußere, "politische" Stützung der gesellschaftlichen 
Kaufkraft erwiesen. Gerade darin liegt ja das Scheitern des Keynesianismus in 
den kapitalistischen Kernländern selbst.

Die angebotspolitische Kehrtwende kann aber die Krise nur beschleunigen und 
verschärfen. Wie es scheint, werden nun die nicht mehr hinauszuschiebenden 
historischen Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise erreicht. Die 
Zwickel-Gewerkschaften haben sich offenbar entschlossen, lieber zusammen mit 
dem Kapitalismus aus Angst vor dem Tod Selbstmord zu begehen als eine neue, 
andere Systemalternative zu entwickeln und soziale Gegenwehr zu leisten. Die 
Politik der "radikalen Anpassung" ist naiv, weil es sich nur um die Anpassung 
an den Untergang des Systems der Lohnarbeit selber handeln kann. Dieser 
Untergang wird auch dann ratifiziert, wenn ihn die gesellschaftlichen 
Institutionen nicht wahrhaben wollen. Dass es im Selbstlauf der Krise nur die 
Kräfte der Barbarei, des Terrors und des Wahnsinns sein können, die das Urteil 
des Systems über sich selber vollstrecken, versteht sich von selbst.


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