[ox] Kurz - Letzte Gefechte 2. Teil
- From: UlrichLeicht t-online.de (Ulrich Leicht)
- Date: Wed, 18 Oct 2000 18:18:50 +0200
http://www.giga.or.at/others/krisis/r-kurz_die-letzten-gefechte_krisis18_
1996.html
************************* Fortsetung Kurz 2. Teil **************************
Was das bedeutet, lässt sich im Vergleich mit der Auseinandersetzung in
Frankreich verdeutlichen. Die Zwickel-Initiative kommt der Position von Alain
Touraine nahe, freilich mit dem Unterschied, dass es sich hier nicht um eine
bloß publizistische Äußerung von Intellektuellen, sondern um eine
institutionelle Wende handelt. Die Position von Bourdieu dagegen kann als eine
noch-keynesianische verstanden werden. Das macht auch die Berufung auf die
nationalökonomische Kohärenz aus. Denn schon Keynes war sehr deutlich bewusst,
dass seine Theorie von staatlicher Regulation und Intervention nur auf dem
Boden einer kohärenten nationalökonomischen Basis möglich sein konnte; er
warnte daher sogar vor einer zu starken Ausdehnung des Weltmarkts.
Keynesianismus, Nationalökonomie und Sozialnationalismus gehören logisch
zusammen. Freilich ist auch der implizite sozialnationale Keynesianismus der
Bourdieu-Richtung kein Reformkeynesianismus "für alle" mehr, sondern bloß noch
ein defensiver Status-quo-Keynesianismus sozialnationaler Schadensbegrenzung,
der keine Veränderungsperspektive mehr hat und die bereits Herausgefallenen
nicht mehr integrieren kann.
Der gewerkschaftliche Übergang zur neoliberalen Angebotspolitik bedeutet aber
weit mehr als die bloß ideologische Akzeptanz der Marktwirtschaft. Er
beinhaltet vielmehr die Akzeptanz, dass alle soziale Reproduktion, die nicht
"regulär" marktwirtschaftlich unter den neuen Bedingungen der Globalisierung
rentabel "erwirtschaftet" werden kann, schlicht entfallen muss. Obwohl der
Terminus "Bündnis für Arbeit" zumal in Deutschland stark nationalistische
Untertöne hat (er erinnert fast zwangsläufig an die nationalsozialistische
"Arbeitsfront" und "Volksgemeinschaft"), wie ja auch der französische
Touraine-Appell nationalistisch unterlegt ist, so kündigt die darin enthaltene
Preisgabe von Keynesianismus und Nachfragepolitik doch implizit die
Geschäftsgrundlage des bisherigen Sozialnationalismus auf.
Der neue monetaristische, angebotspolitische Sozialnationalismus im Zeichen
kapitalistischer Globalisierung ist eigentlich schon keiner mehr oder er ist
eher ein Zweiklassen-Nationalismus. Nicht mehr nur die Verliererländer
"draußen", sondern auch die sozialen Verlierermassen "drinnen" sollen auf das
Niveau einer marktwirtschaftlichen Hungerlohn-Realität heruntergedrückt
werden. Das Einschwenken auf die Kostensenkungs- und Export-Ideologie läuft
darauf hinaus, einen rein marktwirtschaftlichen und global konkurrenzfähigen
Erste-Klasse-Salonwagen für minoritäre Kernbelegschaften und daran angehängt
die Viehwaggons mit Billiglohn-Zwangsarbeit für die Verlierer auf die Reise
schicken zu wollen. Mit dazu passender neoliberaler Frechheit beeilen sich
die Zwickelisten, diese Horror-Perspektive als "Standortsicherung" und
"Integration der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt" zu verkaufen, während der
bloße Gedanke an soziale Kämpfe selbst im beschränkten keynesianischen Sinne
als angebliches Schreckensbild "französischer Zustände" denunziert wird.
Was für den Sozialabfall des kapitalistisch nicht mehr brauchbaren
Menschenmaterials dann noch übrigbleibt, gibt Klaus Lang, persönlicher
Referent des IGM-Chefs Zwickel, mit dem diskreten Charme des ultramodernen
Sozialtechnikers zum besten, wenn er sich in einer Zwischenbilanz über das
"Bündnis für Arbeit" in sozialdiplomatischen Verrenkungen übt: "Und bei der
Arbeitslosenhilfe? Hier ist die geplante Absenkung der Bemessungsgrundlage für
die individuelle Arbeitslosenhilfe von fünf auf drei Prozent zurückgenommen
worden. Der Regierungsentwurf, der eine Absenkung um fünf Prozent vorsah, war
längst vor der Bündnisinitiative beschlossen worden. Wo wäre ohne diese
Initiative für die Regierungskoalition der öffentliche Druck entstanden, ihre
Absicht nicht voll durchzuziehen? (!) Sicher auch kein berauschender Erfolg,
aber ein kleiner Schritt..." (in: Frankfurter Rundschau, 14.2.96). Ein
derartiger Hohn auf gewerkschaftliche Konfliktfähigkeit, der auch noch den
Grad der Leistungskürzung für die Ärmsten als Meßlatte des "Erfolgs" anlegt,
ist sogar in der deutschen Sozialgeschichte selten. Die Arbeitslosen werden
einsehen müssen, dass sie wahrscheinlich bei der Caritas noch besser
aufgehoben sind als bei den Gewerkschaften.
Dass die "Integration in den Arbeitsmarkt" (egal um welchen Preis) zum
höchsten aller Ziele verklärt wird, als könnten sich die Menschen nichts
Besseres mehr wünschen, das ist natürlich schon eine Spekulation mit dem
erbärmlich gewordenen Massenbewusstsein. Sicherlich ist es auch eine Reaktion
auf das tatsächliche Obsoletwerden des Keynesianismus. Denn die Politik des
Deficit spending ist ja tatsächlich gescheitert, und ihre Gratifikationen
waren ja auch nie mehr als der sozialnationalistische Bonus weniger
kapitalistischer Kernländer. Insofern ist auch eine Position wie die von
Bourdieu unhaltbar, der sich "contre la déstruction d'une civilisation"
wendet und damit nichts als die keynesianische Zivilisation des
Nachkriegs-"Sozialkapitalismus" meint. Diese keynesianische Zivilisation
des Wohlfahrtsstaates und des "öffentlichen Dienstes" geht in allen ihren
Hochburgen zu Ende, in Frankreich und Deutschland ebenso wie in Schweden.
Das heißt aber nur, daß die Möglichkeiten einer sozial akzeptablen
Wirtschaftspolitik innerhalb des Marktsystems überhaupt ausgeschöpft sind.
Genau das aber wollen die Gewerkschaften mit ihrer angebots- und
kostensenkungs-politischen Flucht nach vorn nicht wahrhaben.
Die Zwickel-Initiative überholt dabei sogar die programmatische Abrüstung der
Gewerkschaften, die erst im Herbst 1996 auf dem DGB-Kongreß in Dresden mit
einem bis zur Schamgrenze reduzierten Keynesianismus abgesegnet werden soll,
der "auf die Formulierung in sich geschlossener Alternativkonzepte verzichtet"
(so der 1994 gestorbene frühere DGB-Vorsitzende Meyer in seiner Absage an das
DGB-Grundsatzprogramm von 1981). Im "Bündnis für Arbeit" ist aber nicht einmal
mehr die Spur eines Schamkeynesianismus zu entdecken. Von jetzt an kann sich
der DGB ein Programm und einen Kongreß überhaupt sparen (ein Beitrag zur
Kostensenkung?).
Auf einem ganz anderen Blatt steht es freilich, ob die kapitalistischen
Blütenträume der "Modernisierer" für eine Gewerkschaft drastisch reduzierter
sozialer Repräsentanz auch aufgehen und ob der "Zwickel-Abschlag"
(gewerkschaftlicher Volksmund) den Einstieg in ein minoritäres
Globalisierungs-Kartell tatsächlich ermöglicht. In Wirklichkeit ist eine
neoliberale Gewerkschaftspolitik ein Widerspruch in sich. Das Einschwenken auf
die Linie von angebotspolitischer Kostensenkung bedeutet die endgültige
Selbstaufgabe der Gewerkschaften, d.h. der mit der Preisgabe jeder Systemkritik
bereits eingehandelte Legitimationsverlust wird nun auch praktisch und im
großen Maßstab ratifiziert. Das suizidale Zwickel-Programm schützt auch die
Kernbelegschaften nicht, sondern läuft auf eine allgemeine Senkung des Lohn-
und Sozialniveaus hinaus. Denn es ist eine Illusion, dass die Preisgabe
tariflicher Löhne und Arbeitsbedingungen auf ein soziales Segment eingegrenzt
werden könnte. Die Akzeptanz von Einstiegslöhnen unter Tarif ist der Anfang
vom Ende der Tariflöhne überhaupt.
Auch im betrieblichen Mikrobereich zeigt sich an konkreten Beispielen schon
jetzt, dass das "Bündnis für Arbeit" von vornherein auf einem
Sozialmasochismus der Kernbelegschaften selbst beruht: "Ein eigenes Bündnis
für Arbeit praktiziert Mercedes-Benz jetzt gemeinsam mit dem Betriebsrat im
neuen Motorenwerk von Bad Cannstatt. Die Fabrik der Zukunft für 800 Millionen
Mark arbeitet mit modernster Technik rund um die Uhr, nach Bedarf auch
samstags. Selbst die sogenannte Steinkühler-Pause von fünf Minuten je
Arbeitsstunde wollen die 900 Beschäftigten opfern, wenn im September die
Produktion anläuft. Außerdem unterwerfen sie sich einem neuen Lohnsystem und
arbeiten in Gruppen nach genauen Vorgaben für Qualität und Produktivität" (Die
Woche, 12.1.96). Die Hauptvokabeln für die neuen Kernbelegschaften werden nicht
Komfort und Hochlohn sein, sondern "Opfer" und "Unterwerfung", "Hochleistung"
bis an die physischen und psychischen Grenzen, individuelles und
gruppenmässiges Aushandeln ohne Rücksicht auf Schwächere. Das "Privileg"
individualisierter, "olympiareifer" Hochleistungs- und
Hochgeschwindigkeits-Arbeiter wird darin bestehen, auf hohem Niveau
erbarmungslos ausgequetscht zu werden, um mit 40 reif für die Psychiatrie oder
für die Leichenhalle zu sein. Gewerkschaften sind dabei völlig überflüssig.
Abgesehen von den sozialen Standards und von der weiteren Existenzberechtigung
der Gewerkschaften steht aber auch die Frage, ob Angebotspolitik und soziale
Kostensenkung überhaupt als Systemrettungsprojekt durchgehen können (lasst
euch kollektiv kreuzigen für die Erlösung der Marktwirtschaft). Ein Moment der
Marxschen Krisentheorie, das auch von Rosa Luxemburg wieder aufgegriffen wurde,
war ja bekanntlich die strukturelle Unterkonsumtion der Massen als Krisenfaktor
des Kapitals selbst. Insbesondere seit der fordistischen Ära eines
flächendeckenden Vollkapitalismus mit hochorganisierter Massenproduktion ist
die Massenkaufkraft eine conditio sine qua non für eine gelingende Akkumulation
des Kapitals. Wird die Massenkaufkraft durch Massenarbeitslosigkeit, Abbau der
Sozialleistungen und Zurückfahren öffentlicher Dienste bzw. staatlicher
Investitionen radikal abgeschmolzen, dann ist nicht nur die soziale
Reproduktion, sondern auch die ökonomische Existenz- und Funktionsfähigkeit
des Kapitalismus selber grundsätzlich in Frage gestellt. Durch die
betriebswirtschaftliche Globalisierung wird dieses existentielle Problem nicht
beseitigt, sondern nur selber globalisiert; auf dieser Ebene wird es mit
verstärkter Wucht auf das Kapital zurückschlagen. Insofern ist der
monetaristische Neoliberalismus schon mittelfristig ein Selbstmordprogramm der
kapitalistischen Produktionsweise.
Genau dieses Problem bildete ja auch den Kern der Theorie von Keynes und den
Hintergrund für die Nachfragepolitik des Deficit spending (ursprünglich unter
dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929-33). Sicherlich war die
keynesianische Theorie verkürzt, weil sie keine Krisentheorie der
kapitalistischen Produktionsweise, sondern von vornherein bloß eine seichte
Systemrettungs-Theorie war. Das gilt auch für den Linkskeynesianismus mit
zuweilen verschämten Anleihen bei Marx, wie er etwa in der BRD durch die
sogenannte Memorandum-Gruppe linker Professoren vertreten wurde und lange Zeit
auch in die gewerkschaftliche Argumentation Eingang fand. Die mangelnde
Massenkaufkraft wird hier in schönstem Positivismus als isoliertes Phänomen
betrachtet, das "politischer Regulation" und staatlicher Intervention
zugänglich sei. Letzten Endes wird an das Kapital appelliert, es möge doch
Mitleid mit sich selbst haben und die Stärkung der Massenkaufkraft als
Systemnotwendigkeit "politisch" anerkennen.
Bei Marx dagegen wird die mangelnde Massenkaufkraft nicht als isoliertes,
tarif- oder staatspolitisch regulierbares Krisenphänomen, sondern als
strukturelle, objektive innere Schranke des Kapitalverhältnisses analysiert.
Es handelt sich auch nicht um eine bloß äußere Grenze der "Realisierung" des
produzierten Mehrwerts auf dem Markt (wie es bei Rosa Luxemburg erscheint),
sondern um eine mangelnde Produktion von ausreichendem Mehrwert selbst, die
der Oberflächenerscheinung mangelnder Massenkaufkraft zugrunde liegt. Die
Fetischform "Wert", die sowohl von der VWL als auch von der Arbeiterbewegung
positiv genommen wird, hat nichts mit der produzierten stofflichen Gütermenge
zu tun, sondern allein mit der darin inkorporierten Masse abstrakter
Arbeitsquanta auf der Höhe des jeweiligen Rentabilitätsstandards. Das Kapital
tendiert durch die konkurrenzvermittelte Steigerung der Produktivität dazu,
immer mehr stoffliche Produkte mit immer weniger Arbeit zu erzeugen, während
sein eigentlicher Zweck gerade die Anhäufung von in Geld inkarnierten
Arbeitsquanta ist. Es kommt also dazu, dass bei "zu hoher" (vom Standpunkt
der Verwertung aus) Produktivität das bereits akkumulierte Kapital nicht mehr
ausreichend rentabel reinvestiert werden kann ("Überakkumulation"). Der
Rückgang der Massenkaufkraft und der Staatseinnahmen zeigt insofern nur den
Rückgang der realen Wertproduktion an und ist an sich keinerlei äußerer,
"politischer" Regulation zugänglich, sondern markiert die Systemgrenze selbst.
Überakkumulation und Unterkonsumtion sind die beiden Seiten derselben Medaille.
Die Theorie der Überakkumulationskrise wurde schon innerhalb des
Arbeiterbewegungs-Marxismus (etwa von Paul Mattick) gegen die verkürzte,
isolierte Unterkonsumtions-Argumentation der Linkskeynesianer zu Recht ins
Feld geführt. Freilich ließ Mattick zeitbedingt die Frage einer absoluten
historischen Akkumulationsgrenze noch offen, wie er auch (ebenso zeitbedingt)
die Frage der Systemaufhebung noch in den alten soziologischen Terms des
Klassenkampfs formulierte. Tatsächlich konnte in der Vergangenheit die in den
Krisen aufscheinende Systemgrenze immer wieder hinausgeschoben werden, indem
neue Felder der Verwertung abstrakter Arbeit auf immer höherem Niveau
erschlossen wurden; zuletzt bekanntlich im Nachkriegsboom des
Wirtschaftswunders. Die keynesianische Illusion konnte sich halten, nicht weil
der Keynesianismus funktionierte, sondern weil die Kapitalakkumulation von
sich aus genügend reale Wertproduktion abwarf, um das Deficit spending füttern
zu können (vgl. dazu den Artikel "Die Himmelfahrt des Geldes" in Krisis 16/17).
Seitdem durch das Ende des Fordismus und durch die mikroelektronische
Revolution die Krise der realen Wertproduktion auf neuer Stufenleiter
zurückgekehrt und die Überakkumulation des Kapitals nicht mehr eine bloß
zyklische, sondern strukturell geworden ist, hat sich auch die Unhaltbarkeit
eines Programms für die äußere, "politische" Stützung der gesellschaftlichen
Kaufkraft erwiesen. Gerade darin liegt ja das Scheitern des Keynesianismus in
den kapitalistischen Kernländern selbst.
Die angebotspolitische Kehrtwende kann aber die Krise nur beschleunigen und
verschärfen. Wie es scheint, werden nun die nicht mehr hinauszuschiebenden
historischen Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise erreicht. Die
Zwickel-Gewerkschaften haben sich offenbar entschlossen, lieber zusammen mit
dem Kapitalismus aus Angst vor dem Tod Selbstmord zu begehen als eine neue,
andere Systemalternative zu entwickeln und soziale Gegenwehr zu leisten. Die
Politik der "radikalen Anpassung" ist naiv, weil es sich nur um die Anpassung
an den Untergang des Systems der Lohnarbeit selber handeln kann. Dieser
Untergang wird auch dann ratifiziert, wenn ihn die gesellschaftlichen
Institutionen nicht wahrhaben wollen. Dass es im Selbstlauf der Krise nur die
Kräfte der Barbarei, des Terrors und des Wahnsinns sein können, die das Urteil
des Systems über sich selber vollstrecken, versteht sich von selbst.
----------------------
http://www.oekonux.de/