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[ox] jW: Computerentwicklung



Hi Liste,

gestern veröffentlichte die Tageszeitung "junge Welt" einen selten
guten, populär geschriebenen Artikel zur Geschichte der
Computerentwicklung. Beachtenswert daran ist (materialistische)
Erklärung der Computerentwicklung aus der Entwicklung des Kapitalismus
statt - wie meist üblich - aus der Ideengeschichte der Mathematik
(idealistischer Ansatz). Das passt gut zu unser Diskussion vor kurzem.
Die im Artikel formulierte Vorstellung, man könne Computer zur
(zentralen) gesellschaftlichen Planung und Steuerung einsetzen, halte
ich allerdings für naiv. Trotzdem insgesamt lesenswert. Originalquelle:
http://www.jungewelt.de/1999/12-27/013.shtml

Den zweiten Teil (Datenverabeitung bei Industrie, Militär und SS;
erscheint heute) und die folgenden poste ich nicht. Die kann sich jede/r
bei Interesse am Kiosk oder im Web unter http://www.jungewelt.de holen.

Beste Grüße,
Stefan

--------------------------------------------
Das binäre Lochkartenwunder
Von der Lochkarte in den Cyberspace: Zu den gesellschaftlichen
Auswirkungen der Computerentwicklung. Serie
von Hans G Helms (I)

Zum just überstandenen Weihnachtsfest ist mehr Geld für Geschenke in die
Kassen der Computer- und Telekomkonzerne geflossen als in die
irgendeiner anderen Branche. Börsenhändler haben während der Feiertage
rund um die Uhr an ihren Geräten gesessen, weil der Wertpapierhandel
übers Internet die Gier der kleinen www-Spekulantennicht hat ruhen
lassen. Das sollte uns Anlaß geben, über die Geschichte der maschinellen
Datenverarbeitung undSteuerungstechnik und über deren Auswirkungen auf
jedes Individuum und die gesamte Gesellschaft im mikroelektronischen
Zeitalter nachzudenken.

Begreift man Datenverarbeitung als die maschinelle Umsetzung von Daten
in Steuerung von Arbeitsprozessen, die organisierte, als Produkte
materialisierte Datengruppen hervorbringen, dann erkennt man: Die
Datenverarbeitung ist nicht bloß eben so alt wie die industrielle
Revolution, sie ist vielmehr eins ihrer konstitutiven Elemente.

Die frühen Spinnmaschinen - angefangen mit James Hargreaves' 1767
erfundener Jenny über Samuel Cromptons Mule von 1779 bis zum Self-actor
(oder Selfaktor) des Richard Roberts von 1825 - stellen, strukturell
betrachtet, primitive analoge Regelkreise dar, die simple
Produktionsprozesse steuern. Edmund Cartwrights mechanischer Webstuhl
von 1785 symbolisiert hingegen schon einen vom Produkt, dem gewebten
Tuch, bedingten verhältnismäßig komplexen Steuerungsprozeß. Für all
diese frühen datenverarbeitenden Textilmaschinen gilt: Das den
Arbeitsprozeß steuernde Programm ist Bestandteil der
Maschinenkonstruktion, es ist in die Maschine eingebaut.

Als Joseph-Marie Jacquard um 1805 den Musterwebstuhl erfand, da trennte
er als erster die software von der hardware, das Steuerungsprogramm in
Gestalt von Lochkarten oder -streifen von der Maschine, die nach den
durch die Löcher in der Karte gegebenen Instruktionen arbeitet und - je
nach Lochkarte oder Programm - ein Gewebe mit diesem oder jenem Muster,
in diesen oder jenen Farben mechanisch herstellt. Mit der Lochkarte
führte Jacquard das bis heute die Grundarchitektur aller
datenverarbeitenden Maschinen und Computer bestimmende binäre System in
den Maschinenbau ein: Wo die Nadel, die die Lochkarte abtastet, auf ein
Loch, eine Eins, trifft, da findet Veränderung statt; wo sie jedoch auf
Pappe, gleich einer Null stößt, bleibt der Zustand unverändert.

In der Barockzeit, als Adel und Bürgertum sich für jedwede mechanische
Nachahmung des Menschen und seiner Tätigkeiten begeisterten, wurden
erste Versuche unternommen, das Rechnen zu mechanisieren und zu
beschleunigen. 1623 baute Wilhelm Schickard eine analoge Rechenmaschine
für die Grundrechenarten, wie sie die Kaufherren jener Ära zur
Kalkulation und Abwicklung ihrer Geschäfte verwenden konnten. 1641/42
konstruierte Blaise Pascal eine gleichfalls analoge, doch beträchtlich
leistungsfähigere Rechenmaschine, aber seine Pascaline blieb
unausgeführt. 1679 konstruierte und beschrieb Gottfried Wilhelm Leibniz
den ersten binären - also lediglich mit 0 und 1 operierenden -
Rechenautomaten für sämtliche Rechenarten. Seine digitale »lebendige
Rechenbank« konnte nicht fabriziert werden, weil Leibniz keine
befriedigende Lösung für die Steuerung und den Datentransport fand. Das
Steuerungs- und Datentransportproblem löste erst Jacquard mit Lochkarte,
Lochband oder Lochstreifen.

Weniger als zwei Jahrzehnte nach Jacquard trennte der Ingenieur und
Mathematiker Charles Babbage die Datenverarbeitung vollends von der
Fabrikation materieller Güter ab. 1822 konstruierte und baute er mit
Geldern der britischen Regierung eine Differenzmaschine, den direkten
mechanischen Urahn der gegenwärtigen Computer. Die Difference Engine war
imstande, vielgliedrige, bis zu sechsstellige Additionen und
Subtraktionen fehlerfrei auszuführen. Die 1832 von Babbage auf
Lochkartenbasis konzipierte Analytical Engine, die auf analytischem Wege
nahezu jedes arithmetische Problem hätte lösen sollen und sich selbst
korrigieren könnte, war freilich mit den damaligen Werkzeugen und
Materialien der Feinmechanik nicht zu verwirklichen.

Charles Babbage schied die reine Datenverarbeitung von der
Maschinensteuerung mit dem Ziel, die Massenproduktion der sich
entfaltenden Industrien auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen,
nämlich auf die einer mit exakt gemessenen Daten gefütterten Statistik,
und sie in toto zu steuern. Der Mathematiker und Wirtschaftstheoretiker
aus Cambridge hatte beobachtet, daß die kapitalistische Wirtschaft nicht
ohne permanente Analyse und Reorganisation ihrer Ressourcen,
Produktionsmittel und -prozesse wie ihrer Absatzmärkte zu funktionieren
vermochte.

Babbage stützte sein Plädoyer für eine geordnete, prosperierende und
fortschrittliche Wirtschaft auf wissenschaftlicher Grundlage auf die
statistisch- analytische Kompetenz der Rechenmaschine, die er als
engine, als Motor, bezeichnete, weil sie sowohl die einzelne Fabrik als
auch das gesamte System vorantreiben sollte. Mit Hilfe eines nie
versiegenden Stroms von Meßdaten und fortlaufender auf Datenverarbeitung
beruhender Kosten-Nutzen-Analysen wären Durchschnittswerte für sämtliche
ökonomischen Aspekte zu ermitteln. Diese hätten wiederum den technischen
Fortschritt anzukurbeln, und mit dem technischen Fortschritt müßte eine
progressive Teilung der körperlichen wie der geistigen Arbeit
einhergehen.

Als Babbage 1832 sein theoretisches Hauptwerk On the economy of
machinery and manufactures in London veröffentlichte, waren die 3 000
Exemplare im Nu vergriffen. Die ein Jahr darauf unter dem Titel Ueber
Maschinen- und Fabrikenwesen in Berlin publizierte deutsche Ausgabe
fußte bereits auf der erweiterten zweiten Auflage. Mit seiner klaren
Analyse hatte Babbage die Zeitgenossen stark animiert, wohl aber auch
erschreckt; denn in vagen Umrissen zeichnete sich in ihr schon jenes
Gesetz ab, das dem kapitalistischen System unveräußerlich innewohnt:
Karl Marx hat es später als das Gesetz des tendenziellen Falls der
Profitrate dargestellt.

Fällt die Profitrate dem Konkurrenzdruck und der Überproduktion zum
Opfer - so Babbages Argumentation -, dann ist es, um die Profitrate zu
halten oder gar zu steigern, unverzichtbar, daß der kapitalistische
Akteur auf der Basis einer verläßlichen Kosten-Nutzen-Analyse ständig um
maximale Verwertung der Investitionen, um Verbesserung des
Maschinenparks, der Arbeitsteilung und Arbeitsorganisation bemüht ist
wie um Senkung der Lohn-, Kapital-, Rohstoff-, Energie- und
Transportkosten. Erst kraft innovativer, sachlich notwendiger
Rationalisierungsmaßnahmen wird eine dem Aufwand angemessene und gegen
die Konkurrenz auf dem Markt durchsetzbare Preisgestaltung möglich.

In jenen frühmanchesterlichen Zeiten, als die industrielle Entwicklung
noch reichlich planlos ablief, sah Babbage die zentrale Funktion seiner
mechanischen Rechenmaschine schon darin, das einzelne Unternehmen ebenso
wie die gesamte Volkswirtschaft planvoll und rationell zu ordnen. Damit
nahm Babbage das Konzept des modernen computergestützten
Managementsystems, dessen Aufgabe es sein sollte, das gesamte
ökonomische Geschehen in einer Fabrik oder in einem Konzern als
integralen Teil einer nach gesellschaftlichen Bedürfnissen planvoll
organisierten Gesamtökonomie zu steuern und zu überwachen, um anderthalb
Jahrhunderte vorweg. Wie wir nur zu schmerzlich erleben, werden die
gegenwärtig verfügbaren Managementsysteme keineswegs zum Zweck einer
sozial und ökologisch verantwortlichen Volkswirtschaft im nationalen
oder globalen Rahmen eingesetzt, sondern zur Rationalisierung im
betriebswirtschaftlichen Interesse blinder, raffgieriger
Profitmaximierung.

Die oft mangelhafte Architektur und innere Organisation der Fabriken,
die willkürliche Wahl von Fabrikstandorten, die Fabrikenmassierungen an
einem Ort, die wenig durchdachten Betriebserweiterungen oder
-verlagerungen kritisierte Babbage nicht minder vehement wie den zumeist
unzulänglichen Zustand der Straßen und des Kanalnetzes. Er definierte
sie als ökonomische Faktoren und verlangte, sie analog den anderen
Faktoren exakt zu messen, die Meßdaten mit Hilfe der Rechenmaschine zu
evaluieren und sie in die Kosten-Nutzen-Analyse einzubeziehen.

Hätte der mechanische Rechner oder Computer, das Instrument zu solch
umfangreichen Analysen, damals fabriziert werden können, und wäre er
Babbages Vorstellungen entsprechend angewendet worden, dann hätten die
Industriestädte wohl andere Gestalten angenommen als die uns
überlieferten. Umgekehrt ist aus Babbages Untersuchungen abzulesen,
warum die Industrialisierung jene unmenschlichen urbanen Strukturen
produziert hat, die die Städte seither in voneinander zernierte und
miteinander inkompatible Stadtteile mit ständig steigendem
Transportaufkommen zergliedern.

Während sich die Maschinensteuerung vermittels Lochkarten oder
Lochstreifen allmählich in vielen Industriebranchen ausbreitete und
zumal bei Werkzeugmaschinen starke Anwendung fand, stagnierte die
maschinelle Datenverarbeitung ein halbes Jahrhundert lang. Erst Mitte
der 1880er Jahre entwickelte der Ingenieur Herman Hollerith, vormals
Lehrer am MIT, dem Massachusetts Institute of Technology, im Auftrag der
US-Regierung eine Tabulating Machine für die Volkszählung von 1890.
Diese Maschine vermochte die abgefragten Individualdaten nach bestimmten
Kategorien zu tabellarisieren.

Dank der elektro-mechanischen Hollerith-Maschine, wie sie bald genannt
wurde, erfuhr der Staat, der sich - wie schon bei Babbages Difference
Engine - als Finanzier und ideeller Gesamtkapitalist betätigte, wieviel
Einwohner weiblichen oder männlichen Geschlechts von weißer, roter,
schwarzer oder gelber Hautfarbe in San Francisco oder Bismarck, North
Dakota, lebten, welchen Altersstufen sie angehörten und welche Berufe
sie ausübten. Aus den Daten berechnete die Maschine auch, wieviel
Wehrpflichtige im Kriegsfall aufzubieten wären.

Um die 1892 anstehende US-Farmstatistik bewältigen zu können, ergänzte
Herman Hollerith die noch halbautomatische Tabelliermaschine um einen
gleichfalls elektro-mechanischen Addierteil. Im Gespann verrieten die
beiden Rechner dem Herrn im Weißen Haus, in welcher Region die dicksten
Sojabohnen geerntet wurden, wo die saftigsten Rinder weideten, ob
schwarze oder weiße Farmer fleißiger Baumwolle pflückten. Diese Daten
mobilisierten die Fabrikanten landwirtschaftlicher Maschinen und gaben
der gerade entstehenden Agrochemie starken Auftrieb, um die Erträge pro
Hektar zu steigern.

Die Hollerith-Maschine verarbeitete auf Lochkarten in maximal 240
Positionen arrangierte Daten. Geschah die Abtastung anfangs - wie bei
Jacquard - noch mit Nadeln, die, wo sie auf ein Loch trafen, einen
elektrischen Kontakt herstellten, so ersetzte Hollerith, um das
Arbeitstempo zu erhöhen, die Nadeln bald durch Metallbürsten. Als Engpaß
erwies sich das Übertragen der Daten auf Lochkarten: die flinkste
Locherin oder Datentypistin schaffte pro Arbeitstag etwa 700 Karten,
Männer leisteten entschieden weniger. Seither ist Datentypistin ein
schlecht entlohnter Frauenberuf. Um die Produktivität der
Datentypistinnen zu steigern, bemühte sich Hollerith unablässig, den
Lochapparat zu verbessern. Das Ergebnis war der elektro-mechanische
Pantograph-Locher. Um die Kapazität des Systems insgesamt zu erhöhen,
entwickelte er den halbautomatischen Rechner zur vollautomatischen
Maschine und komplettierte sie mit automatischen Karteneingabe- und
Kartensortiergeräten.

Nachdem Hollerith-Maschinen die russische Volkszählung von 1896
erfolgreich absolviert hatten - mit 130 Millionen Untertanen gebot der
Zar über das bevölkerungsreichste Schwellenland -, wurden sie in allen
Industriestaaten für die Bevölkerungs-, Landwirtschafts- und
Industriestatistik adoptiert. Daraufhin begannen auch
privatwirtschaftliche Kunden, die Rationalisierungseffekte der
elektro-mechanischen Datenverarbeitung zu ermessen, und wollten sie
genießen.

Morgen: Datenverabeitung bei Industrie, Militär und SS 

-- 
  Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen
  HA II, Abteilung Datenverarbeitung
  Kanzlerstr. 8, 40472 Duesseldorf
--
  stefan.meretz hbv.org
  maintaining: http://www.hbv.org
  private stuff: http://www.meretz.de
--

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http://www.homepages.de/home/smerten/Oekonux/



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